Warum flächendeckende Vorratsdatenspeicherung keinen Einfluss auf die Kriminalitätsbekämpfung hat
Die Vorratsdatenspeicherung macht nachvollziehbar, wer mit wem per Telefon oder Handy in Verbindung gestanden oder das Internet genutzt hat. Bei Handy-Telefonaten und SMS wird auch der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten. In Verbindung mit anderen Daten wird auch die Internetnutzung nachvollziehbar. Gesammelt werden Informationen über die gesamte Bevölkerung auf Vorrat, unabhängig davon, ob der Verdacht auf eine Straftat besteht.
Die allgemeine und anlasslose Datenerfassung stellt einen beispiellosen Angriff auf unser Recht auf Privatsphäre dar und ist die tiefgreifendste Spielart der Massenüberwachung. Sie erfasst hochsensible Informationen über unser tägliches Leben und schließt niemanden aus. Sie kann persönliche Beziehungen, Kommunikation mit Anwälten, Therapeuten, Eheberatern oder medizinischen Fachleuten wie Psychologen oder Ärzten offenlegen und verschafft Regierungen und Strafverfolgungsbehörden einen noch nie dagewesenen Zugang zu unseren Privatleben, der zu Missbrauch geradezu einlädt.
2011 beauftragte das Bundesamt für Justiz das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht mit der Erstellung eines Gutachtensüber mögliche Schutzlücken aufgrund der Aufhebung des Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010. Untersucht wurden sexuelle Gewalt gegen Kinder und verschiedene andere Bereiche der Kriminalität.
Das Gutachten entkräftet die immer wieder vorgeschobenen Argumente, die vermeintlich für eine eine anlasslose Speicherung sämtlicher Verkehrsdaten sprechen, wie zum Beispiel die Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder oder Terrorismus.
Im Folgenden werden Auszüge aus den Schlussfolgerungen des Gutachtens aufgeführt, aus denen besonders deutlich hervorgeht, wie wenig wirksam die anlasslose Vorratsdatenspeicherung wirklich ist (S. 218ff.):
Terrorismus: Vorratsdatenspeicherung verhindert Terroranschläge nicht
8. Hinzu tritt der Verweis auf die von islamistischen Terroristen ausgehenden besonderen Gefahren. Gerade hier liegen im Übrigen keinerlei Hinweise dafür vor, dass auf Vorrat gespeicherte Verkehrsdaten in den letzten Jahren zur Verhinderung eines Terroranschlags geführt hätten. Verkehrsdaten waren vielleicht dazu geeignet, Ermittlungen nach Terroranschlägen in Teilen zu befördern; sie haben aber allenfalls zu der Frage geführt, warum bereits vorliegende und bekannte digitale Spuren der Telekommunikation nicht für eine Verhinderung von Anschlägen haben eingesetzt werden können.
Keine höhere Aufklärungsquote mit Vorratsdatenspeicherung
9. Die Untersuchung der deliktsspezifischen Aufklärungsquoten für den Zeitraum 1987 bis 2010 zeigt, dass sich der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung nicht als Ursache für Bewegungen in der Aufklärungsquote abbilden lässt. Dies erklärt sich schon aus der großen Zahl polizeilich registrierter Fälle, der gegenüber die Abfrage von Verkehrsdaten nicht ins Gewicht fallen kann.
10. Die deliktsspezifischen Aufklärungsquoten in den Bereichen der Computerkriminalität sowie der so genannten Internetkriminalität geben ebenfalls keine Hinweise dafür her, dass durch die Phase der Vorratsdatenspeicherung Veränderungen in der Tendenz der Aufklärungsraten eingetreten wären.
11. Betrachtet man insbesondere das Jahr 2008, in dem Vorratsdaten grundsätzlich zur Verfügung standen, so kann für keinen der hier untersuchten Deliktsbereiche eine mit der Abfrage zusammenhängende Veränderung der Aufklärungsquote im Hinblick auf das Vorjahr oder den Folgejahren 2009/2010 beobachtet werden.
12. Im Vergleich der Aufklärungsquoten, die in Deutschland und in der Schweiz im Jahr 2009 erzielt worden sind, lassen sich keine Hinweise darauf ableiten, dass die in der Schweiz seit etwa 10 Jahren praktizierte Vorratsdatenspeicherung zu einer systematisch höheren Aufklärung geführt hätte.
13. Punktuelle Vergleiche zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz, also Länder, die gerade seit 2008 unterschiedliche rechtliche Grundlagen im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung aufweisen (jedenfalls zeitweise), führen nicht zu dem Schluss, dass die systematische Sammlung und Speicherung von Verkehrsdaten bzw. deren Fehlen mit sichtbaren Unterschieden in der Sicherheitslage verbunden wären.
14. Auch nach der Beiziehung anderer Informationsquellen ergeben sich keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Schutzmöglichkeiten durch den Wegfall der Vorratsdatenspeicherung reduziert worden wären
Kinderpornografie: Prävention und Strafverfolgung statt flächendeckender Vorratsdatenspeicherung
14.3. Ermittlungen wegen der Verbreitung und des Besitzes von Kinderpornografie wird vor allem wegen des dahinter stehenden sexuellen Missbrauchs besondere Bedeutung zugeordnet. Die Aufklärung von Fällen sexuellen Missbrauchs anlässlich von Ermittlungen wegen Kinderpornografie ist aber allenfalls Zufallsprodukt. Es ergeben sich ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass kommerzielle Webseiten in die Herstellung von Kinderpornografie maßgeblich eingebunden sind. Angesichts der in die Auswertung von Datenträgern investierten Ressourcen und angesichts der besonderen Betonung der Bedeutung der Verfolgung der Kinderpornografie für die Vorbeugung von sexuellem Missbrauch dürfte sich schließlich die Frage stellen, ob die hier verausgabten Mittel nicht besser in anderen Maßnahmen zur Prävention und Repression des Kindesmissbrauchs platziert worden wären.
Einzelfälle rechtfertigen keine anlasslose Vorratsdatenspeicherung
15. Es kann sicher nicht ausgeschlossen werden, dass in komplexen Verfahren und bei Kapitaldelikten Verkehrsdaten wichtige Indizien repräsentieren oder zusätzliche Ermittlungsansätze schaffen. Derartige Fälle, sollten sie zweifelsfrei identifiziert werden können, wirken sich aber auf die Gesamttrends nicht aus.
Evaluation der EU-Kommission ist fehlerhaft
47. Die Evaluation der Europäischen Kommission [1] konnte sich allerdings wegen der fehlenden Differenzierung zwischen auf Vorrat gespeicherten und anderen Verkehrsdaten von vornherein nicht auf eine Bewertung der Vorratsdatenspeicherung beziehen. Der Bericht enthält nur solche Daten, die allein die Praxis allgemeiner Verkehrsdatenabfragen beschreiben.
[1] European Commission: Report From the Commission to the Council and the European Parliament Evaluation report on the Data Retention Directive