Piraten fordern Stopp der Pläne zum EU-Gesundheitsdatenraum
Die federführenden Ausschüsse des Europäischen Parlaments LIBE und ENVI sollen morgen die Verordnung zur Schaffung eines „Europäischen Gesundheitsdatenraums“ (EHDS) absegnen. Danach sollen zu allen Patienten Informationen über jede medizinische Behandlung einschließlich Impfstatus, Medikamente und Schwangerschaften, Labor- und Entlassberichte digital gespeichert werden – auch zu den in Deutschland bisher nicht von der elektronischen Patientenakte betroffenen Privatpatienten. Zugang sollen europaweit eine Vielzahl von Stellen erhalten können. Als Schattenberichterstatter und Mitverhandler der Verordnung für den Innenausschuss (LIBE) warnt der Europaabgeordnete der Piratenpartei Dr. Patrick Breyer vor einem Kontrollverlust der Patienten über sensible Gesundheitsdaten und einer Aufgabe des Arztgeheimnisses.
“Informationen über unsere körperliche und geistige Gesundheit sind äußerst sensibel. Wenn wir uns nicht darauf verlassen können, dass diese Informationen von unseren behandelnden Ärzten vertraulich behandelt werden, lassen wir uns vielleicht nicht mehr behandeln und steigt gar das Suizidrisiko. Die EU lässt sensibelste Patientenakten anhäufen, vernetzen und weitergeben, ohne aber die Kontrolle und Selbstbestimmung der Patienten über ihre Daten sicherzustellen. ‚Alles geht, nichts muss‘ ist kein Ansatz, dem Patienten vertrauen können. Ohne Vertrauen kann ein Europäischer Gesundheitsdatenraum nicht funktionieren. Laut Umfragen wollen mehr als 80% der EU-Bürger selbst über die Weitergabe ihrer Patientenakten entscheiden. Mehrheitlich wollen sie um Einwilligung gebeten werden. Der EU-Deal ist weit davon entfernt. Er verrät die Interessen und den Willen der Patienten, um ihre Daten an Big Tech und Pharmariesen zu verkaufen. Der mit dieser Verordnung einhergehenden Entmündigung von Patienten erteilen wir Piraten eine klare Absage.
Ein europaweiter Zwang zur elektronischen Patientenakte konnte unter anderem auf meine Initiative hin verhindert werden. Laut Artikel 8h und Erwägungsgrund 13a der Verordnung ist das deutsche und österreichische Widerspruchsrecht gegen die Einrichtung einer elektronischen Patientenakte gerettet. Im Fall eines Widerspruchs werden die Pflichtinformationen nur beim behandelnden Arzt gespeichert. Ich selbst werde dieser elektronischen Patientenakte widersprechen, um nicht die Kontrolle über meine Gesundsheitsdaten zu verlieren. Wir wissen aber, dass die wenigsten Patienten, die Fremdzugriffe auf ihre Daten ablehnen, tatsächlich das komplizierte Widerspruchsverfahren durchlaufen.
Wer der elektronischen Patientenakte oder ihrer Auswertung nicht insgesamt widerspricht, ermöglicht wohl zwangsweise auch einen grenzüberschreitenden Zugriff darauf durch ausländische Behandler, Forscher und Regierungen. Das von der Bundesregierung geplante Recht speziell grenzüberschreitenden Datenzugriffen widersprechen zu können, ist in der Verordnung nicht rechtssicher vorgesehen. Das widerspricht dem Interesse und Willen der Patienten, von denen laut Meinungsumfrage nur eine Minderheit einen grenzüberschreitenden europaweiten Zugriff auf ihre Patientenakte wünscht. Es wird auch der Sensibilität von Gesundheitsdaten nicht annähernd gerecht, die von Suchtkrankheiten, psychischen Störungen, Schwangerschaftsabbrüchen bis hin zu Geschlechtskrankheiten und Reproduktionsstörungen reichen.
Auch sonst ist die Verordnung im Sinne maximaler Verwertung unserer persönlicher Gesundheitsdaten und nicht im Interesse der Patienten ausgestaltet. Entgegen der ursprünglichen Position des Europäischen Parlaments müssen die sensiblen Gesundheitsdaten beispielsweise nicht in Europa gespeichert werden, so dass auch eine außereuropäische Speicherung etwa in US-Clouddiensten zulässig ist. Das EU-Parlament hat auch seine Forderung nach einer unabhängigen Zertifizierung der Sicherheit europäischer Gesundheitsdatensysteme aufgegeben.
Die EU-Verordnung fordert von Deutschland keinen besseren Schutz von Gesundheitsdaten als von der Bundesregierung beschlossen. Ohne Einwilligung des Patienten können behandelnde Ärzte europaweit künftig dessen komplette Patientenakte einsehen – es sei denn er widerspricht ausdrücklich. Ohne Einwilligung des Patienten erhalten künftig europaweit auch Gesundheitsministerien und Gesundheitsbehörden, Universitäten, zur Forschung, Produktentwicklung und zum Trainieren ‚künstlicher Intelligenz‘ auch Technologieunternehmen und Pharmaindustrie Zugang zu anonymisierten und personenbezogenen identifizierbaren (nur pseudonymisierten) Patientenakten – es sei denn der Patient widerspricht ausdrücklich. Kein Widerspruchsrecht gibt es in Deutschland gegen die Weitergabe medizinischer Registerdatensätze und von Abrechnungsdatensätzen. Um ihre Einwilligung werden Patienten nur vor Zugriffen auf ihre genetischen Daten gefragt, nicht aber etwa bei Informationen über Psycho- und Suchttherapien, Schwangerschaftsabbrüche, Sexual- und Reproduktionsstörungen. Für uns Piraten steht die Kontrolle des Patienten über seine Daten und der Schutz der ärztlichen Schweigepflicht im Mittelpunkt, so dass Zugriffe auf Behandlungsakten durch Dritte nur nach Nachfrage beim Patienten akzeptabel wären.”
Anja Hirschel, medizinische Informatikerin und Spitzenkandidatin der Piratenpartei für die Europawahl 2024, ergänzt: “Eine zentrale Datenspeicherung weckt Begehrlichkeiten in verschiedenste Richtungen. Wir sprechen dabei allerdings nicht nur von Hackerangriffen, sondern von der sogenannten Sekundärnutzung. Diese bezeichnet Zugriffe, die zu Forschungszwecke vollumfänglich gewährt werden sollen. Die Patientendaten sollen dann an Dritte weitergegeben werden. Aus Datenschutzsicht ist bereits das zentrale Ansammeln problematisch, bei Weitergabe wenigstens ein Opt-In Verfahren (aktive Einwilligung) richtig. Dies würde eine gewisse Entscheidungshoheit jedes Menschen über die persönlichen Daten ermöglichen. Wird allerdings nicht einmal ein Opt-Out Verfahren (aktiver Widerspruch) etabliert, so bedeutet dies letztlich die Abschaffung der Vertraulichkeit jeglicher medizinischer Information. Und das obwohl Ärzte in Deutschland gemäß § 203 StGB berufsständisch zurecht der Schweigepflicht unterliegen, wie u.a. auch Rechtsanwälte. Dieser Schutz unserer privatesten Informationen und das Recht auf vertrauliche Versorgung und Beratung stehen jetzt auf dem Spiel.”
Die Bundesregierung unterstützt die EU-Pläne. Kritik äußerten dagegen der europäische Verbraucherverband BEUC und das Datenschutznetzwerk EDRi.