Leak zu Vorratsdatenspeicherung: Was planen die EU-Regierungen nach ihrem Scheitern vor Gericht?
Ende November 2022 traf sich die Arbeitsgruppe »Zusammenarbeit in Strafsachen« (COPEN) des Rats der Europäischen Union zu einer informellen Videokonferenz. Diskutiert wurde u.a. die Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten der Bürgerinnen und Bürger und andere überwachungsrelevante Themen. Jetzt hat der Investigativjournalist Andre Meister Dokumente des Treffens auf Mastodon und Twitter veröffentlicht. Neben dem Protokoll der Sitzung handelt es sich um Präsentationen von Belgien, Deutschland, Irland und Portugal zu den jüngsten Urteilen des EU-Gerichtshofs und zur jeweiligen nationalen Gesetzgebung.
Der Europaabgeordnete Patrick Breyer (Piratenpartei, Grüne/EFA) kommentiert:
„Die geleakten Dokumente belegen, dass entgegen zahlreicher Urteile weiterhin die willkürliche Speicherung von Kontakten und Bewegungen der gesamten Bevölkerung in der Europäischen Union voran gebracht wird.
Die meisten nationalen Gesetze zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung in EU-Mitgliedsstaaten sind illegal, inklusive der versuchten Rechtfertigung durch „dauerhafte Ausnahmezustände“ in Frankreich und Dänemark oder der Festlegung regionaler Kriminalitätsraten in Belgien. Die massenhafte Speicherung von Informationen über die alltägliche Kommunikation und Bewegungen von Millionen unverdächtiger Menschen ist nach wie vor ein noch nie dagewesener Angriff gegen unser Recht auf Privatsphäre und sie ist die invasivste Methode der Massenüberwachung der eigenen Bevölkerung.
Massenüberwachung ist das Gegenteil von europäischen Werten. Die Kommission der Europäischen Union muss endlich die Straffreiheit der betreffenden Regierungen aufheben und beginnen, das Recht auf Privatsphäre in der gesamten EU durchzusetzen!Die anekdotischen Ergebnisse von Vorratsdatenspeicherung stehen außer Verhältnis zu dem Schaden, den der Einschüchterungseffekt (chilling effect) dieser Überwachungswaffe unserer Gesellschaft zufügt, wie eine neuere Umfrage zeigt. Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung haben keinen messbaren Effekt auf die Kriminalitätsrate oder auf die Aufklärungsrate von Kriminalität in irgendeinem Land der EU. Anträge auf Zugang zu Kommunikationsdaten sind selten erfolglos, auch ohne Gesetzgebung zur verdachtslosen Vorratsdatenspeicherung. Die Aufklärungsquote von Onlinedelikten beispielsweise liegt in Deutschland mit 58,6% über dem Durchschnitt, auch ohne IP-Vorratsdatenspeicherung. Diese Quote sank, als 2009 ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung eingeführt wurde.
Ich beobachte in der EU einen gefährlichen Kreislauf, in dem nationale Regierungen alle Arten von Tricks anwenden, um illegale Massenüberwachung aufrecht zu erhalten. Dadurch missachten sie Urteile des höchsten Gerichts der EU. Die Rechtsstaatlichkeit in der EU und die Grundrechte der Bevölkerung leiden unter der Überwachungsgier von Regierungen und Strafverfolgungsbehörden. Die EU-Kommission schaut tatenlos zu. Die dauerhafte Verletzung von Grundrechten, die Umgehung der Rechtsprechung, das Unterdrucksetzen von Gerichten und die Ignoranz gegenüber Fakten ist ein Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit, den wir stoppen müssen. Die EU-Kommission muss endlich ihre Arbeit erledigen und beginnen, die Grundsatzurteile durchzusetzen, anstatt ein Comeback der Vorratsdatenspeicherung zu planen.“
EU-Urteile in Massenüberwachung verdrehen
Dem Treffen der Arbeitsgruppe gingen mehrere Urteile des EU-Gerichtshof voraus, die unterschiedslose Speicherung von Kommunikationsdaten der Bürgerinnen und Bürger für unzulässig erklärt haben (im Oktober 2022 die Verfahren SpaceNet (C-793/19) und Telekom (C-794/19) und die Schlussanträge des Generalanwalts im Fall La Quadrature du Net u.a. (C-470/21) sowie im September 2022 die Verfahren VD (C-339/20) und SR (C-397/20)). Ausnahmen vom Verbot von anlassloser Massenüberwachung sind nur unter strengen Voraussetzungen möglich.
Die belgische Regierung hatte 2022 allerdings ein neues Gesetz verabschiedet, das sie im Treffen der Arbeitsgruppe präsentiert hat. Das Gesetz steht für eine neue Generation von Gesetzen zur Vorratsdatenspeicherung (Diskussion dazu auf media.ccc.de), die formal vorgibt, die Voraussetzungen des EU-Gerichts einzuhalten, aber, in der Praxis, bleibt es bei der, durch den EuGH abgeschaffften pauschalen Vorratsdatenspeicherung. Ähnlich wie Belgien treibt die Mehrzahl der EU-Mitgliedsstaaten, darunter Irland (thegist.ie) , Frankreich (PatrickBreyer) und Dänemark (itpol.dk), diese Politik der maximalen Überwachung voran, anstatt an maßvollen und gezielte Lösungen zu arbeiten. So haben die Regierungen der Niederlande und Bulgarien betont, dass ihrer Ansicht nach, die allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten aller Bürgerinnen und Bürgern „die am wenigsten einschneidende Maßnahme sei.“ Die Folge dieser Politik ist eine Krise der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union durch weitergeführte Nichteinhaltung von Urteilen des höchsten EU-Gerichts.
ePrivacy: Regierungen wollen „generelle Grundlage“ für Massenüberwachung
In den Rats-Dokumenten fordert die französische Regierung eine Ausnahme vom Anwendungsbereich der ePrivacy-Verordnung im Namen der nationalen Sicherheit, insbesondere für die Arbeit von Geheimdiensten, was pauschale Vorratsdatenspeicherung erlauben würde, selbst ohne Vorhandensein einer gegenwärtigen oder vorhersehbaren Bedrohung der nationalen Sicherheit.
Die aktuell verhandelte ePrivacy-Verordnung soll in Zukunft die Richtlinie aus 2002 ablösen und Bürgerinnen und Bürger vor Datensammlung, Tracking und Überwachung schützen. (Hintergründe, Positionen der Kommission, des Rats und des Parlaments, sowie die Möglichkeit zur Kommentierung auf patrick-breyer.de).
Nach dem Willen Frankreichs soll eine „generelle Grundlage“ für Vorratsdatenspeicherung in der ePrivacy-Verordnung eingeführt werden, die später EU-weit beziehungsweise in einzelnen EU-Mitgliedsländern als rechtlicher Rahmen für Gesetze zur Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung dienen soll. Die Regierungen von Spanien, Belgien und den Niederlanden unterstützen dieses Vorhaben. Das Parlament der Europäischen Union lehnt diesen Vorschlag hingegen ab. Es gibt, beispielsweise mit dem Quick-Freeze-Konzept, also der sofortigen Speicherandordnung bei gegebenem Anlass, Alternativen , die weniger in Grundrechte eingreifen. Österreich wendet das Verfahren bereits an und Deutschlands Bundesjustizminister Marco Buschmann will das Verfahren einführen.
Streitfrage EU-weite Definition von „schwerer Kriminalität“
In der Rats-Sitzung berichtete die Kommission der Europäischen Union über den Entwurf für ein Europäisches Medienfreiheitsgesetz (European Media Freedom Act), das die „Unabhängigkeit der Medien“, „die Kooperation von Regulierungs- und Aufsichtsanstalten“, „staatliche Werbung“ und „Rechte von Medienanbietern“ in Zukunft neu regeln soll. Die Regierungen von Spanien, Frankreich, Bulgarien, Belgien und Italien zeigten sich sehr besorgt, dass der Entwurf des Gesetzes in Artikel 2 eine Definition der „schweren Straftat“ enthält.
In seinen Schlussanträgen (siehe Kommentierung von edri.org) zu einem noch ausstehenden Urteil zu einer Klage der französischen NGO (C-470/21) La Quadrature du Net schreibt Generalanwalt Szpunur: „Der Begriff „schwere Kriminalität“ ist meines Erachtens autonom auszulegen. Er darf nicht von den Auffassungen der einzelnen Mitgliedstaaten abhängen (…)“. Insbesondere die französische Regierung will diesem „Ansinnen (…) energisch entgegentreten.“
Was würde das bedeuten?
Eine mögliche Definition von „schwerer Kriminalität“ im European Media Freedom Act müsste zunächst verhandelt werden. Ob und wozu sie notwendig wäre, müsste auch das EU-Parlament diskutieren. Falls sie mit dem Gesetz beschlossen werden sollte, wäre sie nicht unmittelbar auf das Thema Vorratsdatenspeicherung anzuwenden. Aus Sicht der einzelnen EU-Mitgliedsländer würde die Definition jeweils mehr, weniger oder zumindest andere Straftaten umfassen, als es das jeweilige nationale Recht vorsieht. Hierin könnte ein Grund liegen, warum Paris eine EU-weite Definition ablehnt. In Bezug auf das Thema Vorratsdatenspeicherung besteht die Gefahr, dass die Kommission eine solche Definition nutzen könnte, um einen neuen Vorschlag für eine EU-weite Massenüberwachung auf den Tisch zu legen. Denn eine solche Definition würde einen von mehreren Streitpunkten zwischen den Regierungen beilegen. Andererseits dürfte einigen Regierungen die vorgeschlagene Definition zu eng sein.
Spionagesoftware im Journalismus
Artikel 4 des Entwurfs für ein Europäisches Medienfreiheitsgesetz befasst sich mit strafrechtlichen Ermittlungen und mit Überwachung. Genauer geht es um die Frage des Schutzes der Quellen von Journalist:innen und um den Einsatz von Spionagesoftware. Laut Protokoll befürwortet die Kommission der Europäischen Union den Einsatz solcher Software und argumentiert, dass der journalistische Quellenschutz gewahrt bleibe, solange es sich um „fallbasierte“ Überwachung handelt.