Hintergrundinformationen zu verdachtslosen Kontrollen in Gefahrengebieten in Schleswig-Holstein
Die Presse berichtet darüber, dass die Polizei in Schleswig-Holstein vielfach sogenannte “Gefahrengebiete” ausweist, in denen Beamten ohne Verdacht jede Person kontrollieren dürfen. Begründet wird das unter anderem mit der steigenden Zahl von Wohnungseinbrüchen. Die Polizei hält bisher geheim, wann und wo solche Sonderrechtszonen eingerichtet werden. Nach bisherigen Erkenntnissen sind in der Vergangenheit unter anderem der Kreis Stormarn, Neumünster, Kiel, Rendsburg, Bad Segeberg und Glückstadt zum Gefahrengebiet erklärt worden.
Folgendes sollte man zum Thema “Gefahrengebiete” wissen:
Rechtslage
Rechtsgrundlage ist § 180 Abs. 3 des Landesverwaltungsgesetzes:
Die Polizei darf
- im öffentlichen Verkehrsraum zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung, bei denen Schaden für Leib, Leben oder Freiheit oder gleichgewichtiger Schaden für Sach- oder Vermögenswerte oder die Umwelt zu erwarten sind, oder
- im Grenzgebiet gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Bundespolizeigesetzes vom 19. Oktober 1994 (BGBl. I S. 2978), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Juni 2005 (BGBl. I S. 1818), im Küstenmeer, in den landeinwärts zur Basislinie des Küstenmeeres gelegenen inneren Gewässern gemäß Artikel 8 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (BGBl. II 1994 S. 1799) sowie in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs mit unmittelbarem Grenzbezug zur vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität von erheblicher Bedeutung
Personen kurzzeitig anhalten und mitgeführte Fahrzeuge einschließlich deren Kofferräume oder Ladeflächen in Augenschein nehmen. Inaugenscheinnahme ist die optische Wahrnehmung ohne Durchsuchung; § 206 bleibt unberührt. Maßnahmen nach Satz 1 Nr. 1 werden durch die Leiterin oder den Leiter des Landespolizeiamtes, des Landeskriminalamtes oder einer Polizeidirektion oder von ihr oder ihm besonders Beauftragte des Polizeivollzugsdienstes angeordnet, soweit Tatsachen, insbesondere dokumentierte polizeiliche Lageerkenntnisse, dies rechtfertigen. In der schriftlich zu begründenden Anordnung ist die Maßnahme in örtlicher, sachlicher und zeitlicher Hinsicht auf den für die vorbeugende Bekämpfung der in Satz 1 Nr. 1 aufgeführten Kriminalität erforderlichen Umfang zu beschränken. Die für einen bestimmten örtlichen Bereich angeordnete Maßnahme soll zunächst auf maximal 28 Tage befristet werden. Eine zweimalige Verlängerung um jeweils maximal 28 Tage ist zulässig, soweit die Voraussetzungen weiterhin vorliegen. Über jede weitere Verlängerung einschließlich deren räumlicher Beschränkung und deren Dauer bedarf es einer richterlichen Entscheidung. Zuständig ist das Amtsgericht, in dessen Bezirk das Landespolizeiamt, das Landeskriminalamt seinen oder die Polizeidirektion ihren Sitz hat.
Hinweis: Das Grenzgebiet (Nr. 2) umfasst einen 30 km breiten Streifen von der Landesgrenze und einen 50 km tiefen Streifen von der seewärtigen Begrenzung. Landeinwärts zur Basislinie des Küstenmeeres gelegene innere Gewässer sind beispielsweise die Binnenwasserstraßen Nord-Ostsee-Kanal und Elbe-Lübeck-Kanal. Vielleicht kann jemand die betroffenen Gebiete auf einer Karte grafisch darstellen?
Die sogenannte Befugnis zur “Schleierfahndung” ist 2007 von SPD und CDU unter dem damaligen Innenminister und heutigen SPD-Fraktionsvorsitzenden Dr. Ralf Stegner eingeführt worden, es gab dagegen massive Proteste (s.u.). Die Befugnis soll einen “Sicherheitsschleier” über die erfaßten Gebiete werfen. Deswegen wird sie im allgemeinen als “Schleierfahndung” bezeichnet.
Praxis
Auf Nachfrage hat Innenminister Breitner im Februar erklärt, von der Vorschrift werde in einer Vielzahl von Fällen Gebrauch gemacht, ein “dicker Leitz-Ordner” sei mit Beispielen gefüllt. Er hat drei konkrete Beispiele genannt:
- In Bad Segeberg würden wegen Wohnungseinbruchskriminalität Gefahrengebiete eingerichtet. Der Erfolg zeige sich daran, dass die Kriminalität zurückgegangen sei und sich die Aufklärungsquote verdoppelt habe. Auf Nachfrage konnte er nicht mitteilen, dass sich gerade anlässlich einer anlasslosen Kontrolle ein konkreter Nutzen ergeben habe.
- In Glückstadt-Hohenfelde im Zusammenhang mit einem Sexualdelikt
- Im Bereich Kiel-Neumünster-Rendsburg sei ein Gefahrengebiet zur Bekämpfung der Rockerkriminalität eingerichtet worden.
Auf Nachfrage: Ob die Maßnahmen einen Nutzen haben, werde “nicht statistisch erfasst”, es gebe auch keine regelmäßigen Berichte darüber.
Der vollständige Bericht ist hier nachzulesen.
Nach Presseberichten richtet die Polizeidirektion Ratzeburg seit 2011 in Stormarn und dem Nachbarkreis Herzogtum Lauenburg regelmäßig und über Monate hinweg Gefahrengebiete ein. Die gesamte Stadt Neumünster ist bereits seit 2009, also seit rund fünf Jahren, durchgängig Gefahrengebiet. Auch die Polizeidirektion Segeberg hat demnach einige Bereiche von November 2013 bis März 2014 zum Gefahrengebiet gemacht.
Ergänzung vom 19.06.2014: Eine vollständige Liste der Gefahrengebiete hat die Landesregierung auf unsere Anfrage vorgelegt. Auch die Begründungen der Anordnungen haben wir nun erhalten und veröffentlicht.
Ergänzung vom 24.06.2014: Leider kann ich einige Begründungen nicht veröffentlichen, weil sie als “Nur für den Dienstgebrauch (NfD)” gekennzeichnet sind.
Bewertung
Unser Wahlprogramm dazu:
5.4 Freiheitspaket verabschieden
Wir wollen dem fortschreitenden Abbau der Bürgerrechte entgegentreten, der seit 2001 dramatische Ausmaße angenommen hat. Unnötige und exzessive Überwachungsgesetze der letzten Jahre wollen wir mit einem »Freiheitspaket« wieder aufheben oder auf ein freiheitsfreundliches Maß beschränken, beispielsweise in den Bereichen »Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten«, Videoüberwachung, Wohnungsüberwachung (»Lauschangriff«), Telekommunikationsüberwachung, Rasterfahndung, *Schleierfahndung* und Datenübermittlung an ausländische Stellen.
5.6 Privatsphäre rechtstreuer Bürger achten
Zur Bewahrung unseres historischen Erbes an Freiheitsrechten und zur Sicherung der Effektivität der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung treten wir dafür ein, dass eine staatliche Informationssammlung, Kontrolle und Überwachung künftig nur noch gezielt bei Personen erfolgt, die der Begehung oder Vorbereitung einer Straftat verdächtig sind. …
Auf dieser Grundlage lehnen wir die Einrichtung von Gefahrengebieten und die generelle Kontrollmöglichkeit in Grenznähe ab, weil sie eine ungezielte Kontrolle beliebiger unverdächtiger Personen ins Blaue hinein erlaubt. Das verletzt die Privatsphäre und ist ineffizientes Stochern im Nebel. Zur Verfolgung von Straftaten gibt es ausreichende Möglichkeiten nach dem Strafprozessbuch (Einrichtung von Kontrollstellen usw.) Bis 2006 ist das Land auch ohne Schleierfahndung gut ausgekommen.
Argumente gegen die “Schleierfahndung”:
- Kontrollen vollkommen unverdächtiger Menschen, gegen die nichts vorliegt, allein aufgrund diffuser “Lagebilder” oder Grenznähe greifen zu tief in die Bürgerrechte ein.
- Ganze Städte und Regionen werden als potenziell gefährlich diffamiert, wenn man sie zum “Gefahrengebiet” erklärt.
- Da die Kontrollen ohne Verdacht erfolgen, muss nach anderen Kriterien entschieden werden, wer kontrolliert wird. Das führt immer wieder zur Diskriminierung anders aussehender Menschen beispielsweise aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft. Es kann auch dazu führen, dass man sich zur Vermeidung von Kontrollen unauffällig kleidet oder verhält oder ganz zuhause bleibt, um bloß keinen Anlass zur Kontrolle zu geben.
- Mit der Schleierfahndung Einbrecher finden zu wollen, stellt einen Missbrauch des Gesetzes dar, weil es nicht zur Strafverfolgung eingesetzt werden darf. Es “liegt insgesamt kein Hinweis darauf vor, dass Aufklärungsquoten das Fallaufkommen beeinflussen“, dass also die Festsetzung von Einbrechern zu einem Rückgang der Zahl von Wohnungseinbrüchen führen würde.
- Es gibt keinerlei Beleg für den Nutzen verdachtsloser Kontrollen. Dass mithilfe der Maßnahme auch nur ein Einbrecher dingfest gemacht worden wäre, hat das Innenministerium beispielsweise nicht bestätigen können.
Verfassungskonformität: Das Verwaltungsgericht Hamburg hält das dortige Gesetz zur Schleierfahndung für verfassungskonform (Az. 5 K 1236/11), die Entscheidung ist aufgrund einer Berufung jedoch nicht rechtskräftig. Nach einem neuen Gutachten des Hamburgischen Datenschutzbeauftragten wäre die schleswig-holsteinische Befugnis zur Einrichtung von Gefahrengebieten dagegen deshalb verfassungswidrig, weil
- keine Veröffentlichung der Gebiete erfolgt und
- die Kontrollen nicht auf bestimmte, festzulegende Zielpersonengruppen beschränkt werden.
Parlamentarisches Vorgehen: Zunächst stelle ich eine Anfrage an die Landesregierung, um mehr über die Praxis in Erfahrung zu bringen (Wortlaut der Fragen hier). Sodann wird über eine Gesetzesänderung zur Aufhebung der Befugnis nachzudenken sein. Möglich wäre auch ein Normenkontrollverfahren vor dem Landesverfassungsgericht, wenn sich eine andere Fraktion (z.B. FDP) uns Piraten anschließt.
Was tun? Demonstration gegen Gefahrengebiete am 17. Mai
Ein breites, überparteiliches Bündnis ruft zum Protest gegen Gefahrengebiete und Massenüberwachung am Samstag, den 17. Mai 2014, in der Hamburger Innenstadt auf (14:00 Uhr am Rathausplatz). Weitere Informationen
Am 21. Mai ab 13 Uhr findet im Innen- und Rechtsausschuss des Landtags eine öffentliche Anhörung zu Plänen der Koalition statt, das Versammlungsrecht in Schleswig-Holstein einzuschränken. Das Bündnis für Versammlungsfreiheit ruft dazu auf, an dieser Anhörung teilzunehmen.
Anhang: Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren
Im Gesetzgebungsverfahren wurde die geplante Befugnis zur Schleierfahndung vielfach kritisiert, wobei sich die Kritik auf den ursprünglichen, noch weiter gehenden Entwurf bezieht.
Kritik des Landesdatenschutzzentrums
Schwer wiegen die neuen „Sicht- und Anhaltekontrollrechte“ für sog. Schleierfahndungsmaßnahmen. Dazu gehört die Befugnis zur Inaugenscheinnahme mitgeführter Fahrzeuge, insbesondere deren Kofferräume und Ladeflächen. Die Befugnis knüpft tatbestandlich an einen Grenzbezug oder an den – allgemeinen – Zweck der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten von erheblicher Bedeutung“. Sie bezieht sich hingegen nicht auf Tatsachen oder konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von „Straftaten von erheblicher Bedeutung“, sondern lässt es ausreichen, dass „polizeiliche Lageerkenntnisse“ die Maßnahme „rechtfertigen“. Nach welchen Kriterien die Polizei ihre Lagebilder zu erstellen hat und was unter Lageerkenntnissen zu verstehen ist, sagt die Vorschrift nicht. Damit bestimmt allein die Polizei die Voraussetzungen für einen Eingriff in Freiheitsrechte der Bürger. Diese Voraussetzungen zu bestimmen ist allein Aufgabe des Gesetzgebers (siehe oben). Die Regelung ist mit den oben dargelegten Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts an die Normenbestimmtheit und -klarheit nicht vereinbar.
Die Vorschrift richtet sich zudem gegen polizeirechtlich nicht verantwortliche Personen, also gegen „Jedermann“. Da im Ergebnis jede Person sich sogar eine Sichtung ihres Fahrzeugs gefallen lassen muss, die einer Durchsuchung nachkommt (dagegen BayVerfGH E. v. 07.02.2006 Vf. 69-VI-04), auch wenn sie keinen Anlass hierfür gegeben hat, ermöglicht die Vorschrift unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe (vgl. auch zu § 184 Abs. 2 und Abs. 5). § 180 Abs. 3 Nr. 2 LVwG-E knüpft die Befugnis zur Identitätsfeststellung zudem an einen Grenzbezug i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 3 BPolG. Wie sich aber aus § 2 Abs. 1 BPolG ergibt, ist für die Überwachung der Grenzen und des grenzüberschreitenden Verkehrs die Bundespolizei zuständig, soweit nicht die Landespolizei im Einvernehmen mit dem Bund Aufgaben des grenzpolizeilichen Einzeldienstes mit eigenen Kräften wahrnimmt. Eine solche Aufgabenwahrnehmung ist im LVwG und im POG des Landes nicht vorgesehen.
Kritik von Burkhard Hirsch
Diese Vorschrift ermöglicht die sog. Schleierfahndung im gesamten öffentlichen Verkehrsraum bei nicht näher definierten “Straftaten von erheblicher Bedeutung” unter der Voraussetzung, daß nicht näher bestimmte “polizeiliche Lageerkenntnisse” vorliegen, die offenbar nicht dokumentiert zu werden brauchen, die Anordnung sich auf ein Gebiet bezieht, das kleiner sein muß als das gesamte Landesgebiet, und daß die Anordnung nicht auf unbestimmte Zeit getroffen wird.
Dieser Rechtszustand entspricht dem Preußischen Polizeigesetz von 1851, das allerdings die vorherige Ausrufung des Belagerungszustandes verlangte. In der Sache wird die Entscheidung praktisch in das freie Ermessen der Polizei bis zur Grenze der Willkür oder der offenbaren Sinnlosigkeit gestellt. Es wird lediglich der Eindruck einer gesetzlichen Regelung geschaffen, die jedoch so weit gefaßt ist, daß die Entscheidung in Wirklichkeit der Verwaltung überlassen bleibt. Dabei wird in Grundrechte der von der Kontrolle betroffenen Personen eingegriffen, obwohl sie selbst im jeweiligen Einzelfall keinerlei Anlaß für eine polizeiliche Kontrolle gegeben haben. Das ist mit der Verfassung nicht zu vereinbaren, wie das BVerfG schon in dem oben erwähnten Elfes-Urteil ausgeführt hat.
Im grenznahen Raum wird gem. § 180 Abs. 3 Zif. 2 nicht einmal verlangt, daß es sich um Straftaten von erheblicher Bedeutung handelt und daß irgendwelche besonderen Lageerkenntnisse vorliegen. Es ist auch nicht erkennbar, was unter den Begriff der “vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität” in der polizeilichen Wirklichkeit fallen soll, zumal das Land für Maßnahmen zur Verfolgung konkreter Straftäter über die StPO hinaus keine Gesetzgebungskompetenz besitzt.
Die hier vorgesehene Regelung der Schleierfahndung muß grundsätzlich überarbeitet und massiv eingegrenzt werden.
Kritik der Neuen Richtervereinigung
Die Befugnis zum Anhalten und zur Inaugenscheinnahme von Personen und Fahrzeugen im öffentlichen Verkehrsraum sowie im Grenzgebiet soll erfolgen können, sobald „polizeiliche Lageerkenntnisse sie rechtfertigen“, § 180 Abs. 3 LVwG-E (Schleierfahndung) nach welchen Kriterien die Lageerkenntnisse erstellt und welcher inhaltlichen Qualität sie sein müssen, ergibt weder aus dem Gesetz noch aus der Begründung. Hier bedürfte es eindeutig einer gesetzlichen Konkretisierung unter Benennung von Tatsachen oder konkreten Anhaltspunkten der anzunehmenden Gefährdungslage, vgl. VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 21.10.1999, Az. 2/98.
Kritik des Schleswig-Holsteinischen Richterverbandes
Mangels konkreter Gefahr für höherrangige Rechtsgüter ist die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt. Diese gebietet, dass der Gesetzgeber intensive Grundrechtseingriffe erst von bestimmten Verdachts- oder Gefahrenstufen an vorsehen darf. Erforderlich ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für diese Rechtsgüter eintreten wird (BVerfG, Beschl. v. 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02).
Kritik von mir
Zu den übrigen, im o.g. Gesetzentwurf vorgesehehen Befugniserweiterungen möchte ich nur anmerken, dass nicht erkennbar ist, dass sie die Sicherheit der Bevölkerung tatsächlich messbar stärken würden (z.B. durch eine dauerhafte Senkung der Kriminalitätsrate). Vor diesem Hintergrund erscheinen die geplanten Verschärfungen des bestehenden, bewährten Polizeirechts allesamt nicht erforderlich. In weiten Teilen bestehen auch gravierende verfassungsrechtliche Bedenken.
Kritik des Verwaltungsrichterverbands
Zu § 180 Abs. 3 LVwG-E sind ebenfalls verfassungsrechtliche Bedenken anzumerken, die sich daraus ergeben, dass die Vorschrift keine hinreichend konkreten Voraussetzungen für die Ermächtigung enthält. Die sog. „polizeilichen Lageerkenntnisse“ sind dazu nicht geeignet angesichts des erheblichen Eingriffes in die Freiheitsrechte unbeteiligter Bürger. Es ist nicht erkennbar, in welcher Weise die am Anfang der Gesetzesbegründung genannte Gefahr durch den Terrorismus ein so weit gehendes Erfordernis für Jedermann-Kontrollen über die bereits bestehenden Kontrollmöglichkeiten hinausgehend rechtfertigt. Zu fordern wären hier als Rechtsgrundlage auch für die rechtliche Absicherung der die Kontrollen durchführenden Mitarbeiter der Polizei, dass für derartig weitgehende Maßnahmen exakte Voraussetzungen auf der Basis konkreter Gefahrenverdachte im Gesetz genannt werden.
Kritik des Wissenschaftlichen Dienstes
2.4.1 § 180 Abs. 3 Nr.1
Soweit die polizeiliche Befugnis nach § 180 Abs. 3 Nr. 1 betroffen ist, ergeben sich verfassungsrechtliche Bedenken wegen der Weite der Eingriffsbefugnis unter dem Aspekt der rechtsstaatlichen Bestimmtheit (vgl. Verband der Verwaltungsrichter SH, Umdruck 16/833; NRV S-H, Umdruck 16/862; SH Richterbund, Umdruck 16/973, Dr. Hirsch, Umdruck 16/819, DAV, Umdruck/16/484).
…
§ 180 Abs. 3 Nr. 1 knüpft zur vorbeugenden Bekämpfung lediglich an Straftaten von erheblicher Bedeutung an. Das Merkmal der „Straftaten von erheblicher Bedeutung“, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar grundsätzlich als hinreichend bestimmt erachtet worden (vgl. BVerfGE 110, 33, 65; 107, 299, 321; 103, 21, 33 f. insbesondere auch mit Hinweis auf das Polizeirecht der Länder). Soweit durch legal definierte Begriffe „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ benannt sind, dürfte dem Bestimmtheitsgrundsatz bereits dadurch hinreichend Rechnung getragen sein. Problematisch wird die Einbeziehung durch Verweisung auf alle zusätzlichen Vergehen, die den gesetzlich genannten Bestimmungen vergleichbar sind (BVerfG vom 27. Juli 2005, 1BvR/04, Rn. 128f mit Blick auf die Telekommunikationsüberwachung). Zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ dürfte jedoch gerade bei Maßnahmen, die typischerweise kollektive Kontrollen mit eher geringer Eingriffsschwere zum Gegenstand haben, die Regelbeispieltechnik durchaus ein geeignetes Mittel für den Gesetzgeber sein, die Normenklarheit herzustellen (vgl. BVerfGE 103, 21, 33f; ferner Lindemann, KJ 2000, S. 86ff). Vorliegend wird der Begriff „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ weder durch Legaldefinitionen noch durch Regelbeispiele konkretisiert. Auch durch die Heranziehung anderer Bestimmungen der Vorschrift erfolgt keine hinreichend klare Begrenzung von Eingriffsmaßnahmen, die die Ungewissheit bei der Anwendung der Norm kompensieren könnte (vgl. BVerfGE 110, 33, 57 mit Hinweis der Auslegung unter Nutzung der juristischen Methodik).
Zum Fehlen eines klaren Rechtgüterbezugs tritt hinzu, dass § 180 Abs. 3 Nr. 1 keine eingrenzenden Vorgaben für die Qualität und die Intensität der Gefahrensituation enthält. Für das Vorliegen polizeilicher Lageerkenntnisse reicht lediglich eine allgemeine Verdachtslage aus, die der Polizei ermöglicht, in lagebildabhängigen Kontexten bestimmte Tätergruppen bzw. Profile bei ihrer Tätigkeit zugrunde zu legen und verhaltensunabhängig Maßnahmen durchzusetzen. Eingriffe werden hier letztlich bereits aufgrund von Vermutungen möglich, nicht hingegen auf der Basis von auf Erfahrungssätzen gestützten Tatsachen, die eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts voraussetzen (zum Erfordernis von Tatsachen im Bereich von Gefahrenvorfeldeingriffen, BVerfGE 110, 33, 61).
Während vergleichbare Eingriffsmöglichkeiten nach Sonderordnungsrecht grundsätzlich eine besondere Veranwortlichkeit des Pflichtigen – etwa bei Verkehrskontrollen nach § 36 Abs. 5 StVO die Fahrzeugführereigenschaft – voraussetzen, ermächtigt § 180 Abs. 3 eine anlassunabhängige generelle polizeiliche Anhalte- und Sichtkontrolle auch gegenüber Nichtstörern, ohne dass hierfür eine Gefahrensituation vorzuliegen braucht.
Der diffuse Anwendungsbereich der Vorschrift wird durch die unklare Maßnahme der Inaugenscheinnahme noch verstärkt. Die Befugnis zur Inaugenscheinnahme erschwert eine hinreichend sichere Abgrenzung zur Durchsuchung von Sachen gemäß § 206 LVwG. Zwar wird in der Begründung zum Gesetzentwurf angeführt: „Die Inaugenscheinnahme umfasst dabei die Besichtigung des Innenraumes eines Fahrzeugs, seines Kofferraumes und der Ladeflächen. Nicht zulässig ist hingegen die Durchsuchung, denn sie greift tiefer in die Rechte der kontrollierten Personen ein.“ (Drs. 16/670, S. 33).
Die Inaugenscheinnahme erfordert wie auch die Durchsuchung zunächst eine Öffnung bestimmter Räumlichkeiten. Sie stellt damit den ersten Schritt einer Durchsuchung dar. Insoweit befreit § 180 Abs. 3 die Polizei von den strengeren Vorschriften der Durchsuchung nach § 206 und greift als Spezialregelung für Fahrzeuge und deren Inhalt ein. Bei der Inaugenscheinnahme handelt es sich daher um eine sprachliche Neuschöpfung zur Kompetenzerweiterung zum Zweck der Untersuchung von Fahrzeugen.
Es erscheint jedoch unklar, wo die Grenze zwischen den beiden Befugnisnormen künftig verläuft. Unklar bleibt etwa, ob die Inaugenscheinnahme dazu ermächtigt, Gegenstände im Fahrzeug, die den Sichtbereich verstellen, anzuheben oder wegzubewegen. Eine Abgrenzung zwischen Sichtkontrolle eines PKW von dessen Durchsuchung nach § 206 sollte klarer gefasst werden.
Dabei kann die Freiwilligkeit der Gestattung einer Inaugenscheinnahme durch den Berechtigten (Öffnen von Kofferraum etc.) letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Inaugenscheinnahme im Verweigerungsfall polizeilich ebenso wie eine Durchsuchung durchgesetzt werden würde. (vgl. im Ergebnis ähnlich die Kritik von Dr. Hirsch, Umdruck 16/819, S. 3; ULD, Umdruck 16/745, S. 6; Verband der Verwaltungsrichter SH, Umdruck 16/833, S. 3; Neue Richtervereinigung, Umdruck 16/862, S. 2; Richterbund SH, Umdruck 16/973, S. 1).
Unklar ist ferner, welche Bedeutung der Begriff „insbesondere“ in diesem Zusammenhang hat. Er lässt offen, ob sich die Befugnis zur Inaugenscheinnahme neben Kofferräumen und Ladeflächen auch auf andere räumlich abgrenzbare Fahrzeugteile bezieht und etwa Handschuhfächer und Seitenfächer, aber auch auf die Aufenthaltsräume von den besonderen Schutz des Art. 13 GG genießenden Wohnmobilen bezieht (BGHSt 50, 206ff). Ferner wird durch die Formulierung nicht zweifelsfrei erkennbar, ob sich die Maßnahme auf die im Fahrzeug mitgeführten Gegenstände erstreckt. Es ist daher jedenfalls nicht auszuschließen, dass von der Befugnis in extensiver Weise Gebrauch gemacht werden könnte.
Nach Auffassung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes reichen allgemeine Lageerkenntnisse oder grenzpolizeiliche Erfahrungssätze für Durchsuchungen regelmäßig nicht aus (Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 7. Februar 2006, Az.: VF. 69 – VI – 04, S. 16). Eine Durchsuchung von Fahrzeugen im Rahmen der Maßnahme nach Artikel 180 Abs. 3 stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Privat- und Intimsphäre der Betroffenen dar. Ein derartiger Eingriff kann nicht bereits durch eine nicht näher konkretisierte Lageeinschätzung der Polizei gerechtfertigt sein. Eine präventivpolizeiliche Durchsuchung mitgeführter Sachen im Gefahrenvorfeld würde anderenfalls zu einem bloßen Gefahrenerforschungseingriff entarten (Bayerischer Verfassungsgerichtshof,a.a.O, S. 16). Danach sind Kontrollen, die zwar ausdrücklich als Inaugenscheinnahme durchgeführt werden, die jedoch in ihrem Sinngehalt einer Durchsuchung im Wesentlichen gleich stehen, nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar.
2.4.2 § 180 Abs. 3 Nr. 2
Soweit § 180 Abs. 3 Nr. 2 ein Anhalte- und Kontrollrecht zur vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität vorsieht, bleibt fraglich, ob die nicht nur ereignis-, sondern darüber hinaus auch verdachtsunabhängige Eingriffsbefugnis zur vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität hinreichend
bestimmt ist und die Anforderungen an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfüllt.
Nach Auffassung des Verfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern ist eine begrenzte Befugnis zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten der grenzüberschreitenden Kriminalität verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden (mit Blick auf die Maßnahmen der Identitätskontrolle). Die Problematik des Vorfeldeingriffs, noch dazu eines solchen, bei dem nicht einmal die für § 180 Abs. 1 Nr. 1 erforderlichen Lageerkenntnisse vorausgesetzt werden, machen es jedoch zumindest erforderlich, dass die zu schützenden Rechtsgüter hinreichend präzise beschrieben werden (zur Forderung, dass polizeiliche Lageerkenntnisse auf die drohende Begehung von Straftaten hindeuten VerfG MV, LKV 2000, 149, 156). Die Eingriffsbefugnis zur vorbeugenden Bekämpfung der Kriminalität sollte sich dabei nicht auf jegliche grenzüberschreitende, sondern nur auf qualifizierte Formen der grenzüberschreitenden Kriminalität beziehen. Damit wäre der Ausnahmecharakter einer solchen Befugnis zur vorbeugenden Straftatenbekämpfung sichtbar gemacht. Eine generelle Wertung, wonach die grenzüberschreitende Kriminalität generell schwerer wiege als der gesamte Bereich der Inlandsstraftaten, ist nach Auffassung des Landesverfassungsgerichts nicht zulässig (in diesem Sinne zur polizeilichen Eingriffsbefugnis betreffend der ereignis- und verdachtsunabhängigen Identitätsfeststellungen allerdings auf Durchgangsstraßen, VerfG MV, LKV 2000, 149, 155).
Die Inanspruchnahme von Nichtstörern ist in besonderen Situationen zwecks Erleichterung der staatlichen Aufgabenwahrnehmung durchaus hinzunehmen (vgl. zu ordnungsrechtlichen Lastenzurechnung der örtlichen und zeitlichen Sondersituationen Wächter, DÖV 1999, S. 138, 146). Dies gilt insbesondere für Örtlichkeiten, die durch die Nähe zu Grenzübertritten definiert sind. Es handelt sich insoweit um eine örtliche Sondersituation, in der jedermann mit bestimmte Pflichten – insbesondere mit der Offenbarung der Identität gegenüber der Polizei belastet werden kann (vgl. Waechter DÖV 1999, 138, 146).
Anders als etwa in § 23 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 12 Abs 1 Nr. 1 – 4 Gesetz über die Bundespolizei betreffend die Identitätsfeststellung, fehlt es jedoch in § 180 Abs. 3 Nr. 2 an den eingriffsbegrenzenden Vorgaben über die Art der zur verhütenden Straftaten. Es macht daher Sinn, dass der Gesetzgeber vorliegend einen Katalog von Erscheinungsformen der Kriminalität aufstellt, die typischerweise im Grenzgebiet zu bekämpfen sind (etwa Menschenhandel, Rauschgifthandel, Schleusung von Ausländern, Autoschieberei, Raubzüge). Hinreichend könnte hier auch der Hinweis sein, dass es typischerweise um die Verhütung von Verbrechen geht, die sich durch eine organisierte Begehungsform auszeichnen. Zweck und Voraussetzungen grenzennaher Kontrollen sollte jedenfalls klar bestimmt werden. Eine derartige Konkretisierungen kann dazu beitragen, einen Missbrauch der weiten Eingriffsbefugnisse zur vorbeugenden Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität zu verhindern (vgl. VerfG MV LKV 2000, 149, 155).
Ferner bedarf es einer klareren begrifflichen Klärung von Inhalt und Ausmaß der Befugnis zur Inaugenscheinnahme bei der von der Regelung vorgesehenen Fahrzeugkontrolle (s. unter 2.4.1). Es sollte daher auf den Begriff „insbesondere“ verzichtet werden.
Comments
Sehr geehrter Herr Breyer,
ich habe ihren Artikel gelesen . . nach einigem Stirnrunzeln habe ich mir ihren Eintrag zu ihrer Person angesehen … Unglaublich: da steht doch tatsächlich Jurist.
und dann auch noch Abgeordneter.
Ehrlich gesagt, ihre sehr geringe Kompetenz um Thema Anhalte- und Sichtkontrollen, die in dem Artikel deutlich wird, macht mir doch etwas Angst.
Es kann natürlich auch sein, dass sie sehr kompetent sind und der Artikel nur ihrer politischen Stimmungsmache dient. Aber auch das würde zumindest ich als sehr bedenklich finden. Wie kann man sich soweit herablassen?
Eins weis ich aber jetzt mit Sicherheit:Ernst nehmen und damit wählen kann ich sie und ihre Partei nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus