Sprache ändern: Deutsch
Share:

EU-Parlamentsausschuss: Mehrheit will Chatkontrolle

Europaparlament Freiheit, Demokratie und Transparenz Pressemitteilungen

Nach den inzwischen veröffentlichten Änderungsanträgen des mitberatenden Binnenmarktausschusses (IMCO) des Europaparlaments zur geplanten Chatkontrolle[1] wird die verdachtslose Durchleuchtung privater Nachrichten und Fotos auf vermeintlich verdächtige Inhalte  mehrheitlich unterstützt. Hinter das Vorhaben stellen sich – mit einigen Abstrichen – die europäischen Fraktionen der Sozialdemokraten, Liberalen, Konservativen, Rechts-Konservativen und Rechtsextremen. Nur Grüne/Europäische Freie Allianz, die Linke und zwei in ihrer Fraktion isolierte FDP-Abgeordnete lehnen verdachtslose Nachrichten- und Chatkontrollen ab.

Mit Ausnahme der Liberalen wollen alle Fraktionen Ende-zu-Ende verschlüsselte Nachrichten von der Chatkontrolle ausnehmen. Unter Federführung der CDU-Abgeordneten Walsmann wollen die Konservativen stattdessen aber die Auswertung von Metadaten zur Pflicht machen, um nach bekanntem verbotenen Material zu suchen – wie dies technisch ohne Inhaltsanalyse funktionieren soll, wird nicht erklärt. Sozialdemokraten und Rechts-Konservative wollen Chatkontrollen auf bekanntes Material beschränken, während der Entwurf auch die Suche nach unbekannten Darstellungen und Anbahnungsversuchen mittels „künstlicher Intelligenz“ vorsieht. Konservative und Rechtsextreme fordern eine richterliche Anordnung von Chatkontrollen, während der Entwurf auch Anordnungen „unabhängiger Verwaltungsbehörden“ zulassen will.

Liberale, Konservative und Rechts-Konservative wollen über den Plan der EU-Kommission zur Chatkontrolle sogar hinaus gehen, indem Anbieter auch ohne richterliche oder behördliche Prüfung und Anordnung zur eigenmächtigen Durchführung verdachtsloser Chatkontrollen berechtigt sein sollen. Gegen diese aktuell von US-Anbietern praktizierte „freiwillige Chatkontrolle“ ist eine Klage anhängig, und die EU-Kommission wollte sie mit ihrem Entwurf eigentlich ablösen.

Ebenso wie der sozialdemokratische Berichterstatter Saliba will Piratenabgeordneter Kolaja (Grüne/EFA) dem Verordnungsentwurf neben der Chatkontrolle auch weitere Giftzähne ziehen: In Bezug auf eine Altersverifikation fordert Kolaja, dass keine verpflichtende Alterskontrolle oder -überprüfung eingeführt werden soll, weder für Kommunikationsdienste noch für Appstores, denn den anonymen Versand von E-Mails, Messenger- und Chatnachrichten quasi unmöglich zu machen könnte anonyme Hinweise und Strafanzeigen etwa von Whistleblowern unmöglich machen. Streichen will Kolaja auch das vorgeschlagene Verbot für Appstores, Minderjährige Kommunikationsapps wie Whatsapp installieren zu lassen, um sie vor der Anbahnung sexueller Kontakte zu schützen.

Der Europaabgeordnete der Piratenpartei Dr. Patrick Breyer, Schattenberichterstatter seiner Fraktion im federführenden Ausschuss für bürgerliche Freiheiten (LIBE), kommentiert:

„Nachdem sich selbst im technikaffinen Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments eine breite Mehrheit für verdachtslose Nachrichten- und Chatkontrollen abzeichnet, schrillen die Alarmglocken für alle, die eine Totalüberwachung privater und intimer Nachrichten und Fotos stoppen wollen. Nur eine europaweite Protestwelle kann die Zerstörung des digitalen Briefgeheimnisses jetzt noch verhindern. Dafür kämpfen wir Piraten Seite an Seite mit der Bürgerrechtsbewegung!

Die geplanten Abstriche bei der Chatkontrolle ändern in der Sache nichts am bisher ungekannten Vorhaben der massenhaften, verdachtslosen Durchsuchung der Inhalte privater Kommunikation: Eine Ausnahme für verschlüsselte Kommunikation per Messenger setzt E-Mails und Chats in aller Regel weiterhin verdachtslosen Durchsuchungen aus. Der von der CDU geforderte Richtervorbehalt ist wenig wert, weil die Richter zur Anordnung von Chatkontrollen gesetzlich verpflichtet bleiben.

Auch das verdachtslose Scannen auf ‚bekanntes‘ Material zu beschränken, ändert nichts daran, dass sich in genau diesem Verfahren 80-90% der ausgeleiteten Nachrichten und Fotos als legal herausstellen und ohne Grund in falsche Hände gelangen. Genau diese Chatkontrollen lassen Kinderporno-Ringe völlig unbehelligt, während sie Jugendliche massenhaft kriminalisieren. Auch Betroffene von Missbrauch warnen vor einem Ende des digitalen Briefgeheimnisses – ganz zu schweigen von dessen Unvereinbarkeit mit den Grundrechten. Gleichzeitig bleibt Missbrauchsmaterial, das Strafverfolger längst im Darknet gefunden haben, unerklärlicherweise online und zirkuliert immer weiter.

Voraussichtlich noch 2023 wird sich entscheiden, ob die EU mit der Chatkontrolle ein so extremes digitales Überwachungssystem einführt wie es nirgendwo sonst in der freien Welt existiert. Jetzt kommt es darauf an, dass alle bei der Verteidigung des digitalen Briefgeheimnisses mithelfen – mit Petitionen, Aufmerksamkeit für das Thema und Protesten.“

Im federführenden Innenausschuss LIBE wird der Berichtsentwurf des spanischen konservativen Berichterstatters Zachalejos für Mitte April erwartet.

[1] Änderungsanträge: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/IMCO-AM-745220_EN.pdf und https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/IMCO-AM-745291_EN.pdf , Berichtsentwurf: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/IMCO-PA-740727_EN.pdf

Informationsportal Breyers zur Chatkontrolle

Siehe auch: Analyse von EDRi