EU-Deal zur Chatkontrolle: Flächendeckende und verdachtslose Durchsuchung von Privatnachrichten wird Gesetz
EU-Rat und Parlament haben sich heute Abend darauf geeinigt, Providern zu erlauben, auf der Suche nach Kinderpornografie und „Anbahnungsversuchen“ automatisch sämtliche persönlichen E-Mails und Nachrichten aller Nutzer:innen zu durchleuchten (sog. Chatkontrolle oder e-Privacy-Ausnahme). Im Trefferfall werden Nutzer:innen bei der Polizei angezeigt und ihre Korrespondenz weitergeleitet.
Schattenberichterstatter Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei, Fraktion Grüne/Europäische Freie Allianz) erklärt:
“Dieses Abkommen bedeutet, dass alle unsere privaten E-Mails und Nachrichten einer privatisierten Echtzeit-Massenüberwachung mit fehleranfälligen Denunziationsmaschinen ausgesetzt werden – mit verheerenden Folgen für Nutzer:innen, Kinder und Opfer gleichermaßen. Unzählige unschuldige Bürger:innen werden unter falschen Verdacht geraten, eine Straftat begangen zu haben. Selbst aufgenommene Nacktbilder von Minderjährigen (Sexting) werden in die falschen Hände geraten. Missbrauchsopfer verlieren sichere Kanäle zur Beratung und Unterstützung. Dieser Deal versetzt dem digitalen Briefgeheimnis den Todesstoß, schafft einen verheerenden Präzedenzfall und ist nur durch Desinformations- und Erpressungskampagnen möglich gemacht worden. Solche Denunziationsmaschinen auf uns loszulassen ist ineffektiv, illegal und unverantwortlich. Hier werden totalitäre Methoden eingesetzt, die mit einer Demokratie unvereinbar sind.”
Breyer verweist auf das Rechtsgutachten einer ehemaligen Richterin des Europäischen Gerichtshofs, demzufolge eine flächendeckende Nachrichtendurchleuchtung gegen das Telekommunikationsgeheimnis verstößt. Anfang dieser Woche veröffentlichte Breyer eine Umfrage, derzufolge 72% der Europäer:innen eine verdachtslose Nachrichten- und Chatkontrolle ablehnen.
Die heutige politische Einigung war möglich, nachdem eine Mehrheit der Parlamentsverhandler:innen die meisten der wenigen Einschränkungen aufgaben, die der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten Ausschuss letztes Jahr noch gefordert hatte:
- Die Einigung erlaubt nun das “systematische Filtern und Scannen von Textnachrichten” auf der Suche nach Anbahnungsversuchen („grooming“)
- Auch fehleranfällige “künstliche Intelligenz” darf genutzt werden, um unbekannte Bilder und Videos nach möglicherweise illegalen Inhalten zu durchsuchen
- Es wird keine maximale Fehlerquote für die Suchalgorithmen vorgegeben, KI-Systeme werden auch keiner vorherigen Genehmigung der Datenschutzbehörden bedürfen
- Besonders geschützte Korrespondenz von Berufsgeheimnisträger:innen wie Ärzt:innen, Psycholog:innen, Anwält:innen wird nicht von der Überwachung ausgenommen
- Trotz Fehlerquoten von bis zu 86% laut Polizeistatistiken dürfen Anbieter “bekanntes Material” ohne menschliche Überprüfung vollautomatisch bei der Polizei anzeigen
- Die Polizei muss keine Angaben über die Anzahl der Falschanzeigen und die Zahl der tatsächlich eingeleiteten Strafverfahren veröffentlichen
- Anbieter müssen Nutzer:innen, die sie bei der Polizei anzeigen, nicht darüber informieren
Die Kommission bereitet zurzeit eine Folgegesetzgebung vor, um die Chatkontrolle für alle Anbieter in Europa verpflichtend zu machen – möglicherweise auch für Messengerdienste, die bisher noch sicher Ende-zu-Ende-verschlüsselt sind. Derzeit wird die Chatkontrolle nur von US-Anbietern eingesetzt. Missbrauchsopfer Alexander Hanff kritisiert Chatcontrol mit den Worten: “Es wird nicht verhindern, dass Kinder missbraucht werden, es wird den Missbrauch einfach weiter in den Untergrund treiben, es immer schwieriger machen, ihn zu entdecken und letztendlich dazu führen, dass mehr Kinder missbraucht werden.”
Comments
Ist das nicht ein völlig unverhältnismäßiger Eingriff ins Fernmeldegeheimnis, also hält es Verfassungsbeschwerden/Klagen vor dem EuGH stand? Mit der gleichen Begründung könnte die Post ja auch Briefe öffnen, analysieren und wieder eintüten.
Bleibt vorerst nur: Selber hosten und verschlüsseln, verschlüsseln und nochmal verschlüsseln. Und das natürlich mit Verfahren, bei denen der Provider gar nicht in die Nachrichten reinsehen kann.
Ein guter Anfang ist es z.B. schon einmal von den Gmail-Adressen wegzukommen, nutzen leider immer noch viel zu viele.