Der Intransparenz-Balken im Auge des Europäischen Gerichtshofs | verfassungsblog [extern]
„Vom Richten1 Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! 2 Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. 3 Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? 4 Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? 5 Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.“Bergpredigt (Matthäus 7)Mit Urteil vom 18. Juli 2017 (Rs. C-213/15 P – Breyer) hat der Gerichtshof ein auf den ersten Blick wenig aufregendes Urteil zu den Informationspflichten der EU-Kommission gefällt. Der Gerichtshof bestätigt darin seine ständige und richtige Rechtsprechung, nach der die Kommission zur Herausgabe auch solcher Schriftstücke und Informationen verpflichtet sein kann, die im Rahmen eines vor der Unionsgerichtsbarkeit geführten Rechtsstreits entstanden sind. Schon das erstinstanzlich entscheidende EuG hatte dies festgestellt und kann sich jetzt vollumfänglich bestätigt sehen. Vor dem Hintergrund der insoweit gefestigten Rechtsprechung mutete es ohnehin erstaunlich an, dass die Kommission ihrerseits auf einer Verweigerung des Informationszugangs beharrte und das Verfahren durch zwei Instanzen trug.Der Kommission ging es ums Prinzip. Die Informationsanträge des Bürgerrechtlers und Mitglieds der Piratenpartei Patrick Breyer bezogen sich nämlich auf Schriftsätze der Republik Österreich aus einem Vertragsverletzungsverfahren. Die Kommission war der Meinung, diese Schriftsätze fielen nicht in den Anwendungsbereich der Transparenzverordnung Nr. 1049/2001, weil es sich eigentlich um Dokumente des Gerichtshofs handele. Dieser sei aber nach Art. 15 III AEUV den Transparenzverpflichtungen des Unionsrechts nur dann unterworfen, wenn er nicht rechtsprechend, sondern lediglich verwaltend tätig werde. Die Kommission selbst habe als Partei des Gerichtsverfahrens nur Abschriften der österreichischen Schriftsätze erhalten. Werde sie zur Herausgabe dieser Abschriften verpflichtet, so werde das inhaltlich restriktive Informationsregime der Satzung des Gerichtshofs umgangen.Die Kommission trifft damit in der Tat einen wunden Punkt der Rechtsprechungspraxis des EuGH: Weil und soweit der Gerichtshof selbst den Zugang zu den eigenen Prozessakten verweigert, erscheint es wenig überzeugend, wenn dieser Zugang dann über den Umweg von Informationsanträgen gegen die Kommission erstritten werden kann. Das wird umso deutlicher, wenn es sich – wie im vorliegenden Fall – nicht um die Schriftsätze der Kommission selbst, sondern um die ihres jeweiligen Verfahrensgegners oder eventuell beteiligter Dritter handelt. Der Zugang zu Informationen aus Verfahren vor dem EuGH wird so nicht vom Gerichtshof selbst gewährt und bestimmt, sondern von einem anderen EU-Organ. Wenig plausibel erscheint es auch, dass dieser Zugang damit von der Beteiligung eines EU-Organs, sei es der Kommission, des Rates, des Parlaments oder einer sonstigen Einrichtung der EU im jeweiligen Gerichtsverfahren abhängt. Wo es an einer solchen Beteiligung – wie etwa im Vorabentscheidungsverfahren, in Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklagen Privater oder in sonstigen Konstellationen – fehlt, kann jedenfalls der unionsrechtliche Informationszugangsanspruch nicht greifen.Die Auflösung dieser Widersprüchlichkeiten kann allerdings – anders als dies der Kommission offenbar vorschwebte – nicht in der gänzlichen Verweigerung des Informationszugangs zu Schriftsätzen aus unionalen Gerichtsverfahren liegen. Wie der EuGH zu Recht feststellt, ließe sich eine solche Verweigerung schon mit den grund- und primärrechtlichen Garantien des Unionsrechts nicht vereinbaren.Vielmehr muss umgekehrt endlich eine unmittelbare Transparenz des EU-Gerichtsverfahrens eingeführt werden. Der Zugang zu den beim EuGH eingereichten Schriftsätzen und zu sonstigen die Verfahren betreffenden Informationen muss – wie es Generalanwalt Bobek zu Recht angemahnt hat – durch den Gerichtshof selbst gewährleistet werden. Schon in rechtshistorischer Sicht erscheint es widersinnig, dass ausgerechnet die Gerichtsbarkeit, die als erste den Forderungen der Aufklärung nach einer Öffentlichkeit staatlicher Verfahren entsprach, sich auf unionaler Ebene heute dem Transparenzverlangen prinzipiell versagt. Auch in rechtsvergleichender Sicht spricht – wie etwa das Beispiel des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte veranschaulicht – nichts für eine prinzipielle Ausklammerung gerade der Judikative. Das die Funktionalität des Gerichtsverfahrens durch die Transparenz der ihm zugrundeliegenden Informationen gefährdet würde, ist nicht mehr als eine durch nichts belegte Schutzbehauptung.Nicht ohne Grund hat deshalb Generalanwalt Bobek den Gerichtshof für verfassungsrechtlich verpflichtet angesehen, selbst Zugang zu den von ihm verwalteten Informationen zu gewähren. Zwar scheint die Ausklammerung des Gerichtshofs in Art. 15 III AEUV auf den ersten Blick gegen eine solche Verpflichtung zu sprechen. Auch das Zugangsgrundrecht des Art. 42 GRC, das eine entsprechende Ausklammerung nicht ausdrücklich enthält, lässt sich über Art. 52 II GRC als entsprechend eingeschränkt verstehen. Demgegenüber hat der Generalanwalt auf die zahlreichen allgemeinen Transparenzverpflichtungen des Unionsverfassungsrechts verwiesen, die nicht zwischen den verschiedenen Organen differenzierten. Für einen durch den Gerichtshof selbst zu gewährenden unmittelbaren Informationszugang spreche auch das in Art. 11 GRC verankerte Grundrecht der Informationsfreiheit. Dieses entspreche inhaltlich Art. 10 EMRK. Aus dieser Vorschrift leite der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner jüngeren Rechtsprechung ein Recht auf Zugang zu staatlicherseits verwalteten Informationen ab. So habe er etwa entschieden, dass Ungarn Art. 10 EMRK dadurch verletzt habe, dass es einer Nichtregierungsorganisation den Zugang zu einer Beschwerdeschrift in einem beim Verfassungsgerichtshof anhängigen Verfahren betreffend die Verfassungsmäßigkeit von Änderungen des ungarischen Strafgesetzbuchs verweigert habe (vgl. EGMR, Urteil v. 14. April 2009, Társaság a Szabadságjogokért/Ungarn). Entsprechendes müsse auch für beim EuGH anhängige Verfahren gelten.Der EuGH ist diesem – auch an anderer Stelle schon formulierten – Plädoyer nicht nachgekommen. Im Gegenteil hat er erneut seine sachlich und rechtlich nicht überzeugende ständige Rechtsprechung wiederholt, wonach auch die Kommission zu Informationsgewährung hinsichtlich laufender Gerichtsverfahren regelmäßig nicht verpflichtet sei. Eine entsprechende Verpflichtung soll sich grundsätzlich erst nach Abschluss des Verfahrens ergeben. Auch eine mögliche eigene Verpflichtung zur Informationsgewähr spricht der EuGH nicht an.Die zu entscheidende Rechtssache hätte dazu aber, trotz ihrer Ausrichtung auf einen gegenüber der Kommission geltend gemachten Informationsanspruch, Anlass geboten. Das EuG hatte den Kläger nämlich ungeachtet seines rechtlichen Erfolgs schon in erster Instanz zu einer Teilübernahme der Kosten verurteilt. Auf diese Weise sei dessen Fehlverhalten zu sanktionieren. Zur Begründung hatte das EuG darauf verwiesen, der Kläger habe noch während der Anhängigkeit des Gerichtsverfahrens auf seiner Website die Klagebeantwortung, die Erwiderung, den Streithilfeschriftsatz des Königreichs Schweden sowie einen Schriftverkehr zwischen der Kommission und dem Kläger über die Veröffentlichung dieser Dokumente verbreitet. Die Veröffentlichung der Dokumente habe Internetnutzern die Möglichkeit eröffnet, Kommentare abzugeben, und zu einigen kritischen Kommentaren betreffend die Kommission geführt. Schon der Generalanwalt hatte diesen Gebrauch der Kostenentscheidung als Sanktionsinstrument kritisiert und dem EuGH empfohlen, diese Kostenentscheidung selbst nicht zu übernehmen, sondern der unterlegenen Kommission entsprechend der üblichen Praxis die gesamten Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen.Der EuGH verfährt zu Unrecht genau gegenteilig und erlegt dem Kläger mit gleicher Begründung die Hälfte der eigenen Rechtsmittelkosten auf. Die Verfahrensunterlagen, die den Parteien des Verfahrens vor dem Gerichtshof übermittelt würden, seien der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Deshalb stelle die nicht genehmigte Veröffentlichung der auf das vorliegende Verfahren bezogenen Schriftsätze durch Herrn Breyer eine unangemessene Verwendung von Verfahrensunterlagen dar, die der geordneten Rechtspflege schaden könne und der bei der Aufteilung der Kosten des Rechtsmittelverfahrens Rechnung zu tragen sei.Das klingt nicht nur nach einer kleinlichen, beleidigten Trotzreaktion; es ist es auch. Rechtlich spricht nach obigen Ausführungen nämlich alles dafür, dass schon der Gerichtshof selbst zur Veröffentlichung der betreffenden Unterlagen verpflichtet gewesen wäre. Die – im Übrigen zum Schutz etwaiger Betroffener sorgsam anonymisierte – Veröffentlichung durch einen Verfahrensbeteiligten kann deshalb kaum als mit einer Kostenentscheidung zu sanktionierendes rechtliches Fehlverhalten verstanden werden. Der Gerichtshof bemerkt und sanktioniert demnach ein nur vermeintliches Fehlverhalten auf Seiten des Klägers. Er bemerkt zu Recht ein Fehlverhalten der Kommission. Die eigenen informationsrechtlichen Defizite aber sieht er nicht. Für die sonst oft so beeindruckende unionsrechtliche Gerichtsbarkeit ist dies kein Ruhmesblatt. Fortgeschriebene Intransparenz wird die Legitimation des Europäischen Gerichtshofs auf Dauer eher untergraben als stärken. Das muss man gerade in diesen Zeiten sehr bedauern.SUGGESTED CITATION
Wegener, Bernhard: Der Intransparenz-Balken im Auge des Europäischen Gerichtshofs, VerfBlog, 2017/7/18, http://verfassungsblog.de/der-intransparenz-balken-im-auge-des-europaeischen-gerichtshofs/. Let’s block ads! (Why?)
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