Chatkontrolle: Innenausschuss stimmt über Gesetz zur flächendeckenden und verdachtslosen Durchsuchung von Privatnachrichten ab
Morgen stimmt der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europaparlaments über einen Gesetzesentwurf ab, der es Providern in Zukunft erlauben soll, auf der Suche nach Kinderpornografie und „Anbahnungsversuchen“ automatisch sämtliche persönlichen E-Mails und Nachrichten aller Nutzer:innen zu durchleuchten (sog. Chatkontrolle oder e-Privacy-Ausnahme). Am 29. April haben Vertreter:innen von EU-Rat und Parlament hinter verschlossenen Türen einen Deal geschlossen. Melden die Suchalgorithmen einen Verdacht, werden Nutzer:innen bei der Polizei angezeigt und ihre Korrespondenz weitergeleitet. Der komplette Text der geplanten Verordnung ist seit heute hier einsehbar. Mit Ausnahme der Fraktionen Grüne/Europäische Freie Allianz und Linke wird eine breite Mehrheit erwartet.
Schattenberichterstatter Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei, Fraktion Grüne/Europäische Freie Allianz) warnt:
“Diese Verordnung bedeutet, dass alle unsere privaten E-Mails und Nachrichten einer privatisierten Echtzeit-Massenüberwachung mit fehleranfälligen Denunziationsmaschinen ausgesetzt werden dürfen – mit verheerenden Folgen für Nutzer:innen, Kinder und Opfer gleichermaßen. Unzählige unschuldige Bürger:innen werden unter falschen Verdacht geraten, eine Straftat begangen zu haben. Selbst aufgenommene Nacktbilder von Minderjährigen (Sexting) werden in die falschen Hände geraten. Missbrauchsopfer verlieren sichere Kanäle zur Beratung und Unterstützung. Dieser Deal versetzt dem digitalen Briefgeheimnis den Todesstoß, schafft einen verheerenden Präzedenzfall und ist nur durch Desinformations- und Erpressungskampagnen internationaler Akteure möglich gemacht worden. Solche Denunziationsmaschinen auf uns loszulassen ist ineffektiv, illegal und unverantwortlich. Hier werden totalitäre Methoden eingesetzt, die mit einer Demokratie unvereinbar sind.”
Breyer verweist auf das Rechtsgutachten einer ehemaligen Richterin des Europäischen Gerichtshofs, demzufolge eine flächendeckende Nachrichtendurchleuchtung gegen das Telekommunikationsgeheimnis verstößt. Eine im April veröffentlichte Umfrage zeigt außerdem, dass 72% der Europäer:innen eine verdachtslose Nachrichten- und Chatkontrolle ablehnen.
Die politische Einigung in den Trilogverhandlungen war möglich, nachdem eine Mehrheit der Parlamentsverhandler:innen die meisten der wenigen Einschränkungen aufgaben, die der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten letztes Jahr noch gefordert hatte:
- Aus dem ursprünglichen Entwurf wurde die Passage gestrichen, dass Algorithmen Textnachrichten „nicht systematisch, sondern nur bei Vorliegen konkreter Verdachtspunkte auf sexuellen Kindesmissbrauch filtern und durchsuchen“ sollten
- Auch fehleranfällige „künstliche Intelligenz“ darf genutzt werden, um unbekannte Bilder und Videos nach Auffälligkeiten zu durchleuchten
- Es wird keine maximale Fehlerquote für die Suchalgorithmen vorgegeben, KI-Systeme werden auch keiner vorherigen Genehmigung der Datenschutzbehörden bedürfen
- Besonders geschützte Korrespondenz von Berufsgeheimnisträger:innen wie Ärzt:innen, Psycholog:innen, Anwält:innen wird nicht von der Durchsuchung ausgenommen
- Trotz Fehlerquoten von bis zu 86% laut Polizeistatistiken dürfen Anbieter vermeintlich “bekanntes Material” weiterhin ohne menschliche Überprüfung vollautomatisch bei der Polizei anzeigen
- Die Polizei muss keine Statistiken über die Anzahl der Falschanzeigen und die Zahl der tatsächlich eingeleiteten Strafverfahren veröffentlichen
- Anbieter müssen Nutzer:innen, die sie bei der Polizei anzeigen, nicht darüber informieren
Die Kommission bereitet unterdessen bereits eine Folgegesetzgebung vor, um die Chatkontrolle für alle Anbieter von E-Mail, Messaging und Chats verpflichtend zu machen – möglicherweise auch für Messengerdienste, die bisher noch sicher Ende-zu-Ende-verschlüsselt sind. Derzeit wird die Chatkontrolle nur von US-Anbietern eingesetzt. Missbrauchsopfer Alexander Hanff kritisiert die Chatkontrolle mit den Worten: “Es wird nicht verhindern, dass Kinder missbraucht werden, es wird den Missbrauch einfach weiter in den Untergrund treiben, es immer schwieriger machen, ihn zu entdecken. Das wird letztendlich dazu führen, dass mehr Kinder missbraucht werden.”
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