Chatkontrolle: Finale Abstimmung über EU-Verordnung zur flächendeckenden und verdachtslosen Durchsuchung elektronischer Nachrichten
Nach einer Debatte heute Abend werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments morgen (6. Juli) über die Verordnung zur Chatkontrolle abstimmen, die es E-Mail- und Messaging-Anbietern erlauben wird, private Nachrichten unterschiedslos und in Echtzeit nach verdächtigen Inhalten zu durchsuchen („ePrivacy-Ausnahmeverordnung“). Nach der Verabschiedung darf elektronische Korrespondenz anhand intransparenter Datenbanken und mit fehleranfälliger „künstliche Intelligenz“ durchsucht werden. Obwohl diese Algorithmen nach potenzieller Kinderpornografie und Anbahnungsversuchen an Minderjährige suchen sollen, sind bis zu 86% der der Polizei gemeldeten Nachrichten nicht strafrechtlich relevant und Nutzer:innen werden zu Unrecht verdächtigt – 30% davon Minderjährige.
Schattenberichterstatter und Bürgerrechtler Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei, Fraktion Grüne/Europäische Freie Allianz) kritisiert:
“Dass die Post alle Briefe verdachtslos öffnet und scannt, wäre undenkbar – doch mit unserer elektronischen Post soll genau dies geschehen dürfen. Aufgrund des fehleranfälligen Verfahrens geraten Unzählige unschuldige Bürger:innen unter falschen Verdacht, eine Straftat begangen zu haben. Selbst aufgenommene Nacktbilder von Minderjährigen (Sexting) werden in die falschen Hände geraten und Missbrauchsopfer verlieren sichere Kanäle zur vertraulichen Beratung und Unterstützung.
Diese Verordnung versetzt dem digitalen Briefgeheimnis den Todesstoß, schafft einen verheerenden Präzedenzfall für privatisierte Massenüberwachung und ist nur durch Desinformations- und emotionale Erpressungskampagnen internationaler Akteure möglich gemacht worden. Solche Denunziationsmaschinen auf uns loszulassen ist ineffektiv, illegal und unverantwortlich.
Eine wahllose Suche ins Blaue hinein ist der falsche Weg zum Schutz von Kindern und gefährdet diese sogar, indem ihre privaten Aufnahmen in die falschen Hände geraten und Kinder vielfach kriminalisiert werden. Überlastete Ermittler werden mit dem tausendfachen Aussortieren strafrechtlich irrelevanter Nachrichten aufgehalten. Die Opfer eines so schrecklichen Verbrechens wie des sexuellen Kindesmissbrauchs haben ein Recht auf Maßnahmen, die Missbrauch von vornherein verhindern. Der richtige und überfällige Weg wären etwa verstärkte verdeckte Ermittlungen in Kinderporno-Ringe und ein Abbau der jahrelangen Bearbeitungsrückstände bei Durchsuchungen und Auswertungen beschlagnahmter Datenträger durch die Polizei.”
Die EU-Pläne zur Chatkontrolle wurden von einer ehemaligen Richterin des Europäischen Gerichtshofs als grundrechtswidrig eingestuft[1]. Laut einer repräsentativen Umfrage[2] lehnen 72% der EU-Bürger:innen die anlasslose Durchleuchtung ihrer privaten Kommunikation ab. Trotzdem empfiehlt der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten (LIBE)[3] des Parlaments dem Plenum, für die Chatkontrolle zu stimmen.
Die verdachtslose Chatkontrolle ist zunächst als freiwillige Maßnahme der Kommunikationsanbieter vorgesehen und wird bisher von US-Diensten wie GMail, outlook.com und Facebook Messenger praktiziert. Für den Sommer 2021 hat die Europäische Kommission jedoch angekündigt, einen Gesetzesvorschlag zur verpflichtenden Anwendung der Chatkontrolle durch alle Anbieter von E-Mail-, Messenger- und Chatdiensten vorzulegen. Dies könnte auch bisher noch sicher verschlüsselte Messengerdienste wie WhatsApp oder Signal zum Einbau von Hintertüren zwingen.
Hintergrund
2020 schlug die Europäische Kommission eine Übergangsverordnung[4] vor, die die Durchsuchung aller privaten Chats, Nachrichten und E-Mails nach illegalen Darstellungen von Minderjährigen und versuchter Kontaktanbahnung mit ihnen ermöglichen soll. Damit soll es Anbietern ermöglicht werden, alle Nachrichten auf verdächtige Texte und Bilder zu scannen. Dies geschieht in einem vollautomatischen Prozess und unter Einsatz fehleranfälliger “künstlicher Intelligenz”. Erachtet ein Algorithmus eine Nachricht als verdächtig, werden deren Inhalt und Metadaten automatisch und ohne menschliche Überprüfung an eine private Organisation mit Sitz in den USA und von dort an nationale Polizeibehörden weltweit weitergegeben. Die gemeldeten Nutzer:innen werden darüber nicht benachrichtigt.
Gegen das Verfahren der flächendeckenden Chatkontrolle haben sich unter anderem der Bundesdatenschutzbeauftragte, die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein ausgesprochen. Auch ein Missbrauchsopfer kritisiert das Vorhaben, weil es Opfern Kanäle zur vertraulichen Beratung, Therapie und Hilfe nehme: “Es wird nicht verhindern, dass Kinder missbraucht werden, es wird den Missbrauch einfach weiter in den Untergrund treiben, es immer schwieriger machen, ihn zu entdecken. Das wird letztendlich dazu führen, dass mehr Kinder missbraucht werden.” [5] Im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass US-Dienste wie GMail, Facebook Messenger und Outlook.com bereits seit Jahren private Nachrichten durchleuchten und tausende von Strafanzeigen versenden, von denen allerdings bis zu 86% unschuldige Nutzer fälschlich der Kinderpornografie bezichtigen. Breyer hat im vergangenen Jahr bei der irischen Datenschutzbehörde deswegen eine Beschwerde gegen Google und Facebook eingereicht.
Auf Breyers Homepage können Bürger:innen sich informieren und mit einer Nachricht an Europaabgeordnete gegen die geplante Verordnung zur Chatkontrolle protestieren: www.chatkontrolle.de
[4] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:52020PC0568&from=EN
[5] https://www.linkedin.com/pulse/why-i-dont-support-privacy-invasive-measures-tackle-child-hanff
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