Abgeordnete in der gesamten EU fordern den EU-Rat auf, den Vorschlag zur Chatkontrolle abzulehnen
Der folgende Brief von Abgeordneten aus verschiedenen Parlamenten in der Europäischen Union wurde heute versendet (und ist weiter für Unterschriften offen). In diesem Beitrag ist eine deutsche Übersetzung des Briefs, hier ein Link zur englischen Originalfassung.
Sehr geehrter Rat der Europäischen Union,
Sehr geehrte nationale Regierungen,
in den letzten Tagen der belgischen EU-Ratspräsidentschaft hat Belgien seine letzte Initiative vorgelegt, um im Rat der EU eine allgemeine Ausrichtung zur stark umstrittenen CSA-Verordnung (Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates mit Vorschriften zur Verhütung und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern) zu erreichen. Mit der möglichen Abstimmung über die CSA-Verordnung am 19. Juni riskiert der Rat weit mehr als nur die Verabschiedung einer einfachen Verordnung.
Sexueller Missbrauch und die Ausbeutung von Kindern, einschließlich der Verbreitung von Material über den sexuellen Missbrauch von Kindern, müssen mit äußerster Entschlossenheit im Einklang mit der Rechtsstaatlichkeit bekämpft werden. Der von der EU-Kommission vorgelegte Verordnungsvorschlag enthält zwar einige gute und wichtige Maßnahmen, wie z.B. das EU-Zentrum, aber es ist höchst fraglich, ob zentrale Aspekte der Verordnung mit den europäischen Grundrechten vereinbar sind.
Als Parlamentarier beobachten wir mit großer Sorge den Vorschlag des EU-Rates, der die Vertraulichkeit privater Kommunikation aushebeln würde. Auch wenn die belgische Ratspräsidentschaft nun einen Kompromissvorschlag vorgelegt hat, der die Verpflichtung zum Scannen privater unverschlüsselter sowie verschlüsselter Video- und Bildinhalte einschränkt, bleibt er ein Eingriff in die digitalen Grundrechte und führt die Diskussion zurück an den Ursprung der Debatte. Tatsächlich entspricht der belgische Vorschlag den ersten Pläne der Kommission, die im Dezember 2021 bekannt wurden.
Sichere und verschlüsselte Kommunikation ist für jeden Menschen von größter Bedeutung. Dies gilt auch für Kinder und Opfer von sexuellem Missbrauch, um sichere Rettungs- und Hilfeleistungen zu ermöglichen – insbesondere in Ländern, in denen sich Opferhilfsorganisationen nicht auf die Unterstützung und das Stillschweigen der staatlichen Strafverfolgungsbehörden verlassen können.
Abgesehen von der Gefahr, dass der Eingriff in die digitale Selbstbestimmung der Menschen dem Ziel des CSA-Vorschlags zuwiderläuft, könnte es zu mehreren unbeabsichtigten, aber gefährlichen Nebeneffekten kommen:
- Client Side Scanning (CSS) und jede andere Massenüberwachung würde die Übermittlung vertraulicher Informationen unmöglich machen: Das Scannen würde Nutzer betreffen, die auf vertrauliche Kommunikation angewiesen sind und deren Kommunikation einen besonderen Anspruch auf Schutz hat (zur Vertraulichkeit verpflichtete Berufsgruppen wie Journalisten, Rechtsanwälte, der medizinische Bereich, aber auch Whistleblower). Außerdem könnten eingebaute Hintertüren die Vertraulichkeit digital übermittelter Betriebsgeheimnisse und Geschäftsvorgänge gefährden. Verschlüsselung schützt die Identität und den Inhalt der Kommunikationsteilnehmer und wahrt so die Autonomie der Opfer sexueller Gewalt.
- Eine demokratische Gesellschaft und demokratische Debatten brauchen vertrauliche Schutzräume: Demokratische Gesellschaften brauchen Privatsphäre zur Meinungs- und Willensbildung. Die vorgeschlagenen Maßnahmen bergen die Gefahr, zu einer Selbstzensur zu führen und sichere Räume für Kinder und Opfer sexueller Gewalt, aber auch für alle anderen zu gefährden. Außerdem werden sie wahrscheinlich dazu führen, dass Nutzer digitale Dienste nicht mehr nutzen wollen und das Vertrauen in die Anbieter verlieren, wenn ihre Daten nicht sicher und geschützt sind.
- Blaupause für autoritäre Staaten und Schwächung der Cybersicherheit: Durch den Aufbau einer Architektur, die jede Möglichkeit der privaten digitalen Kommunikation untergräbt, könnte die Verordnung unbeabsichtigt als Blaupause für die Überwachung in autoritären Staaten dienen und als eingebaute Hintertür dienen, die leicht für alle Arten von Überwachungspraktiken (z. B. Geschäftsgeheimnisse) und Cyberkriminelle ausgenutzt werden kann. Einmal aufgebaut, ist diese IT-Architektur eine Einladung zur Aushöhlung der Privatsphäre.
- Beeinträchtigung von digitalen Bildungs-, Jugend- und Hilfsdiensten: Die in einigen europäischen Ländern übliche Praxis, wichtige Informationen zur sexuellen Gesundheit an solche Bildungseinrichtungen weiterzugeben, wird dadurch abgeschafft.
Die verpflichtende Überwachung privater Nachrichten ohne Verdacht birgt die Gefahr, ein Klima des Generalverdachts zu schaffen. Ein solcher Ansatz wird dem Bild der Europäischen Union als Garant der Freiheit irreparablen Schaden zufügen.
Wir warnen ausdrücklich davor, dass die Verpflichtung zum systematischen Scannen verschlüsselter Kommunikation, ob nun “Upload-Moderation” oder “Client-Side-Scanning” genannt, nicht nur die sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung brechen würde, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht standhalten wird. Vielmehr stünde ein solcher Angriff in völligem Gegensatz zum europäischen Engagement für sichere Kommunikation und digitale Privatsphäre sowie für die Menschenrechte im digitalen Raum.
Wir brauchen daher dringend einen Ansatz, der dem Schutz und der Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch Vorrang einräumt, mehr Ressourcen und eine gezieltere Koordinierung der europäischen Strafverfolgungsbehörden vorsieht, die Unterstützung der Opfer im Einklang mit den Grundrechten stärkt und es vermeidet, sich auf ein falsches Gefühl der Sicherheit durch Technosolutionismus zu verlassen.
Als nationale und europäische Parlamentarier sind wir überzeugt, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht mit den europäischen Grundrechten vereinbar sind. Wir setzen uns für die Wahrung des Rechts auf anonyme und pseudonyme Nutzung des Internets sowie für die Stärkung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ein.
Wir fordern alle verhandelnden Regierungen im Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER / AStV) dringend auf, eine allgemeine Ausrichtung auf der Grundlage des von Belgien vorgelegten Kompromissvorschlags abzulehnen.
Unterzeichner*innen (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung):
Tobias B. Bacherle, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Konstantin von Notz, MdB & stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Süleyman Zorba, Abgeordneter, Die Grünen, Österreich
Maximilian Funke-Kaiser, MdB, FDP, Deutschland
Konstantin Kuhle, MdB & stellvertretender Fraktionsvorsitzender, FDP, Deutschland
Sven Clement, Abgeordneter, Piraten, Luxemburg
Patrick Breyer, MdEP, Piraten, Deutschland
Marketa Gregorová, MdEP, Piraten, Tschechische Republik
Marcel Kolaja, MdEP, Piraten, Tschechische Republik
Rasmus Andresen, MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Maik Außendorf, MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Michael Bloss, MdEP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Deutschland
Damian Boeselager, MdEP, Volt, Deutschland
Georg Bürstmayr, MdEP, Die Grünen, Österreich
Marcel Emmerich, MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Emilia Fester, MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Alexandra Geese, MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Stefan Gelbhaar, MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Andreas Glück, MdEP, FDP, Deutschland
Sabine Grützmacher, MdB, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Deutschland
Svenja Hahn, MdEP, FDP, Deutschland
Katrin Helling-Plahr, MdB, FDP, Deutschland
Manuel Höferlin, MdB, FDP, DeutschlandMisbah Khan, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Moritz Körner, MdEP, FDP, Deutschland
Katharina Kucharowits, Abgeordnete, SPÖ, Österreich
Denise Loop, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Boris Mijatovic, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Maximilian Mordhorst, MdB, FDP, Deutschland
Hannah Neumann, MdEP, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Dr. Nikolaus Scherak, Abgeordneter, NEOS, Österreich
Jan-Christoph Oetjen, MdEP, FDP, Deutschland
Tabea Rößner, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Michael Sacher, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Kordula Schulz-Asche, MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland
Kim van Sparrentak, MdEP, Grüne, Niederlande
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, MdB, FDP, Deutschland