Beschwerde gegen ZDF-Sendung zu Vorratsdatenspeicherung
Am 12. November 2023 habe ich eine Programmbeschwerde beim Fernsehrat zur ZDF-Sendung »Kampf gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder« vom selben Tag eingereicht. Der Beitrag von »Berlin direkt – dem politischen Magazin aus der Hauptstadt« enthält inhaltliche Fehler und stellt die Themen Vorratsdatenspeicherung, Quick Freeze und Kinderschutz einseitig dar.
Beschwerde unbegründet abgebügelt
ZDF-Intendant Dr. Norbert Himmler hat Mitte Dezember 2023 meine Beschwerde mit einem Schreiben (PDF) abgebügelt (mein Tröt und Tweet dazu). Weil auf wesentliche Punkte nicht eingegangen wurde und die Antwort stellenweise inhaltlich nicht korrekt ist, habe ich im Januar 2024 eine ausführliche Beschwerde an den Beschwerdeausschuss gesendet. Die Vorsitzende des ZDF-Fernsehrates, Marlehn Thieme, teilte mir Mitte März in einem äußerst kurzen Schreiben (PDF) mit, dass der Fernsehrat meine Beschwerde „abschließend als unbegründet zurückgewiesen hat“. Ihr Schreiben geht auf keinen einzigen meiner Kritikpunkte ein, stimmt meiner Beschwerde „in der Sache“ zu und verweist auf die Kürze des Beitrags, als Begründung für dessen unausgewogene Darstellung des Themas, wobei eine „bewusste (!) Einseitigkeit (…) nicht belegbar” sei. Als einziges Ergebnis meiner Beschwerde wurde mir versichert: Eine „inhaltlich fundierte Beschwerde [bleibt] im ZDF nicht ohne Wirkung. Die intensive Diskussion mit den Programmverantwortlichen (…), führt zu einem konstruktiven Umgang mit den Inhalten der Beschwerde und, wo nötig, auch zu Reaktionen in der redaktionellen Arbeit.“
Reaktionen in der redaktionellen Arbeit?
Die Reaktion des ZDF auf meine ausführliche Beschwerde ist nicht angemessen – natürlich müssen auch kurze Beiträge sachlich korrekt und ausgewogen sein, insbesondere wenn es um äußerst kontroverse, aktuelle politische Gesetzesvorhaben geht, wie den Streit um die Vorratsdatenspeicherung. Seit Jahrzehnten wird mit Scheinargumenten und Falschbehauptungen Stimmung gemacht für eine anlasslose Speicherung von Kommunikationsdaten von allen Bürgerinnen und Bürgern. Erinnert sei exemplarisch an Sigmar Gabriel und seine Behauptung, dass Vorratsdatenspeicherung bei den Anschlägen in Oslo bei der schnelleren Aufklärung geholfen hätte oder die Darstellung, dass Vorratsdatenspeicherung notwendig sei, obwohl Studien keine Belege für eine positive Wirkung erkennen. Journalismus sollte hier auf kritische Distanz gehen. Wir Piraten werden die redaktionelle Arbeit zum Thema Vorratsdatenspeicherung weiter kritisch verfolgen!
Meine Programmbeschwerde vom 12.11.2023
Verletzung der Sorgfaltpflicht nach Medienstaatsvertrag durch vermeidbare Verbreitung folgender falscher Informationen. Konkret:
- Nicht nur die FDP, sondern auch die Grünen lehnen dem Koalitionsvertrag entsprechend verdachtslose IP-Vorratsdatenspeicherung ab. Hätte eine einfache Anfrage bestätigt, ist auch nachzulesen. Die Missbrauchsbeauftragte ist zwar Mitglied der Grünen, hat aber natürlich in ihrer Funktion gesprochen und nicht für die Partei.
- NCMEC durchforstet NICHT systematisch Bildmaterial, sie leiten Verdachtsmeldungen der Konzerne als Clearingstelle weiter (“CyberTipline”). Siehe https://www.missingkids.org/theissues/csam#whatncmecisdoingaboutit
- Verdächtige können (auch laut BKA) NICHT nur anhand IP-Adresse, sondern oft auch über die Telefonnummer oder die Mailadresse ermittelt werden. Siehe https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/230623_Mindestspeicherfristen_IP-Adressen.html
Darüber hinaus wäre eine Ermittlung auch beim nächsten Login möglich (sog. Login-Falle).
Insgesamt ist der Beitrag weit von einer ausgewogenen Darstellung entfernt. Nur ein Kritiker kommt mit drei Sätzen zu Wort, ansonsten ausschließlich Befürworter einer IP-Vorratsdatenspeicherung. Die Diskussionslage wird dadurch vollkommen falsch abgebildet. Bei einer Anhörung im Bundestag etwa haben viele unabhängige Kritiker gesprochen. Durch einseitige Auswahl der Gesprächspartner wird auch der Diskussionsstand einseitig dargestellt und Gegenargumente fehlen fast vollständig.
Meine Ausführliche Beschwerde vom 11.01.2024
Sehr geehrte Frau Thieme,
die Stellungnahme des Intendanten vom 13. Dezember 2023 zu einigen Punkten aus meiner Beschwerde vom 12. November 2023 habe ich dankend erhalten. Ich möchte meiner Beschwerde wegen Verletzung der Sorgfaltpflicht nach Medienstaatsvertrag durch vermeidbare Verbreitung folgender falscher Informationen wie folgt Nachdruck verleihen und fordere eine Behandlung der Beschwerde im Fernsehrat:
Die Stellungnahme geht nicht darauf ein, dass der Beitrag ab Minute 02:00 fälschlich suggeriert, dass innerhalb der Ampelregierung lediglich die FDP gegen eine Vorratsdatenspeicherung sei: „Keine gesetzlich geregelte Speicherpflicht, keine Datenüberwachung, eine zerstrittene Ampel. Die SPD dafür, die FDP strikt dagegen.“ Auch die zur Ampel gehörenden Grünen lehnen die Vorratsdatenspeicherung ab und unterstützen den Quick-Freeze-Vorschlag, was der Beitrag verschweigt. Der Intendant räumt ein, dass die gezeigte Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, nicht für die Grünen gesprochen hat. Warum wird dann zu ihren Aussagen immerzu die Parteimitgliedschaft groß eingeblendet? Insofern werden Zuschauende in diesem Punkt in die Irre geführt.
Auf meinen zweiten Kritikpunkt, das US-Kinderschutzzentrum NCMEC durchforste entgegen der Behauptung im Beitrag nicht systematisch problematisches Bildmaterial, behauptet der Intendant nun, die von Providern eingegangenen Verdachtsmeldungen würden von NCMEC systematisch durchforstet. Auch dies ist falsch. Die millionenfachen automatisierten Verdachtsmeldungen von Algorithmen der Industrie werden vom NCMEC nicht systematisch durchforstet, sondern in einem automatisierten Verfahren an Strafverfolgungsbehörden weiter geleitet bzw. diesen zugänglich gemacht. NCMEC agiert in aller Regel bloß als Clearingstelle (“CyberTipline”), siehe missingkids.org („NCMEC staff may review content reported to the CyberTipline and then the reports are made available to law enforcement for their independent review“).
Auch auf den folgenden Kritikpunkt meiner Beschwerde geht der Intendant nicht ein, darum präzisiere ich diesen noch einmal: Bei Minute 1:31 sagt Kriminalhauptkommissar Thorsten Ivers: „Die einzige Möglichkeit den Täter zu ermitteln ist über die sogenannte IP-Adresse, also eine eindeutige Bezeichnung eines Telekommunikationsanschlusses.“ Das ist falsch, da Verdächtige oder Täter auch über, wie etwa das BKA informiert, Telefonnummern oder E-Mail-Adressen, die beim Anlegen eines Accounts angegeben werden müssen, identifiziert werden können. Eine weitere Möglichkeit ist etwa die Login-Falle. Laut Bundesregierung gingen 2021 78.600 Hinweise von NCMEC ein, davon wurden 62.300 als strafrechtlich relevant eingestuft, aber nur 2.150 Fälle (3%) konnten mangels gespeicherter IP-Adresse oder anderer Anhaltspunkte nicht weiter verfolgt werden (BT-Drs. 20/534, S. 27 f.).Insgesamt wird bei Kinderpornografie im Netz laut Kriminalstatistik eine Aufklärungsquote von über 90% erreicht, weswegen die Worte im Beitrag „Deutschland tappt im Dunkeln“ fernab der Realität sind.
In allen drei am Anfang des Beitrags genannten Fällen (Lügde, Bergisch Gladbach und Münster) waren es nicht IP-Adressen, die zu den Tätern führten, so dass auch hier ein falscher Eindruck erweckt wird. Die falsche Aussage von Herrn Ivers wird weder im Text des Beitrags, noch durch einen anderen O-Ton korrigiert, was zur Folge hat, dass Zuschauende an dieser Stelle falsch informiert werden.
Der Intendant behauptet in seiner Stellungnahme, dass die in meiner Beschwerde erwähnte Anhörung im Bundestag „nicht Gegenstand des Beitrags“ sei. Erwähnt habe ich die Anhörung vom 11. Oktober 2023, um deutlich zu machen, dass, sich, anders als im Beitrag der Eindruck erweckt wird, Expertinnen und Experten uneins bei dem Thema sind. In dem Beitrag wird bei Minute 03:06 als einzige Stellungnahme aus dieser Anhörung die des Deutschen Richterbunds zitiert und auch bildlich gezeigt, so dass aus der Anhörung selektiv, einseitig und unausgewogen zitiert wird. Anderslautende Stellungnahmen etwa vom Digitale Gesellschaft e.V., vom Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. oder von der Kinderrechtsexpertin Dr. Sabine Witting werden im Beitrag weder erwähnt noch zitiert. An dieser Stelle werden Zuschauende klar einseitig informiert.
In seiner Antwort schreibt der Intendant, dass sich die Autorin auf die Auseinandersetzung über den Gesetzentwurf des Bundesjustizministers Marco Buschmann zur Einführung eines Quick-Freeze-Verfahrens konzentriert habe. Das ist nicht der Fall, da überwiegend die Notwendigkeit einer Vorratsdatenspeicherung behauptet wird, aber gerade nicht ausgewogen über Vor- und Nachteile des Quick-Freeze-Verfahrens informiert wird. Die Kritik an einer verdachtslosen und flächendeckenden IP-Vorratsdatenspeicherung kommt für eine ausgewogene Darstellung der Debatte zu kurz. Der Umstand, dass eine von vier im Beitrag sprechenden Personen eine Vorratsdatenspeicherung ablehnt, schafft hier keine journalistische Ausgewogenheit.
Grund- und Freiheitsrechte werden im Beitrag lediglich an einer Stelle kurz und implizit erwähnt, obwohl sie in der Debatte eine wesentliche Rolle spielen und in der Kurzbeschreibung des Beitrags im Netz explizit genannt werden. Im Unterschied zum Titel des Beitrags ist der Inhalt nicht neutral, sondern leitend. Während der Titel („Kampf gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder“) eine ausgeglichene Darstellung von Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder erwarten lässt, räumt der Beitrag die meiste Zeit Argumenten für Vorratsdatenspeicherung ein und endet mit einem wertenden Urteil bei 03:58 Minute: „Die Politik schaut tatenlos zu, setzt lieber auf Datenschutz statt Kinderschutz“. Durch diesen vermeintlichen Gegensatz wird das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung diffamiert, obwohl nach § 3 Medienstaatsvertrag auch die Achtung vor der Freiheit anderer zu stärken ist. Zuschauenden wird suggeriert, dass das Problem beim Datenschutz liege, während der aktuelle Stand der Diskussion um wirksame und überwachungsfreie Maßnahmen für besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen im Beitrag unerwähnt bleibt. (Hierzu: Der Kinderschutzbund sieht auch ohne Vorratsdatenspeicherung ausreichend Möglichkeiten im Kampf gegen Pädokriminalität, das Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion: Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen Kinderschutz geht uns alle an, netzpolitik.org: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder: „Der Gesamtüberblick fehlt komplett“, das neu erschienene Buch zum Thema »Direkt vor unseren Augen« oder Digitalcourage: Alles für den Schutz von Kindern) Das Grundrecht auf Anonymität schützt Kinder, Frauen, Stalkingopfer, sexuelle Minderheiten, politische Aktivisten und viele mehr im Netz, schützt vor falschem Verdacht, bewahrt die Informationsfreiheit, ermöglicht anonyme Veröffentlichungen und Leaks. Der Beitrag erklärt leider in keiner Weise, was IP-Adressen sind und warum sie einem Schutz unterliegen. Insgesamt ist der Beitrag weit von einer ausgewogenen und sorgfältigen Darstellung entfernt.