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Bundesregierung unterstützt EU-weite Patientendatenvernetzung (EHDS) – Europaabgeordnete wollen Zwang zur vernetzten elektronischen Patientenakte für alle stoppen

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Die EU-Regierungen sollen heute im AStV-Ausschuss des EU-Rats grünes Licht für die Schaffung eines EU-Gesundheitsdatenraums (EHDS) zur europaweiten Vernetzung von Patientendaten geben. Unterdessen haben Europaabgeordnete heute Änderungen beantragt, um einen Zwang zur vernetzten elektronischen Patientenakte zu verhindern und die Kontrolle der Patienten über ihre Behandlungsdaten zu sichern.

Die deutsche Bundesregierung will der EU-Verordnung zur Schaffung eines EU-Gesundheitsdatenraums dem Vernehmen nach zustimmen. Sie ist der Auffassung, die Verordnung führe keinen Zwang zur vernetzten elektronischen Patientenakte für alle ein. Indem die Verordnung ein Widerspruchsrecht von Patienten gegen Zugriffe auf ihre Daten erlaube, dürfe Deutschland auch ein Widerspruchsrecht gegen die elektronische Patientenakte als solche einführen. „Das ist eine gewagte und nicht rechtssichere Interpretation der Verordnung“, kritisiert Dr. Patrick Breyer, Europaabgeordneter der Piratenpartei und Mitverhandlungsführer der Fraktion Grüne/Europäische Freie Allianz im Innenausschuss des EU-Parlaments. „Eine Zwangs-elektronische Patientenakte muss im geplanten Gesetz glasklar ausgeschlossen werden.“ Auch in Österreich gibt es die Sorge, der Gesundheitsdatenraum könnte das Widerspruchsrecht gegen die elektronische Patientenakte aushebeln.

Breyer hat daher heute gemeinsam mit Birgit Sippel (SPD), Tiemo Wölken (SPD), Cornelia Ernst (Linke) und anderen Europaabgeordneten der SPD, Grünen und Linken einen Änderungsantrag zu der Verordnung eingereicht. Nach dem Willen der über 70 unterzeichnenden Abgeordneten soll in die Verordnung eingefügt werden: „Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass natürliche Personen das Recht haben, der Registrierung ihrer personenbezogenen Gesundheitsdaten in einem EHR-System zu widersprechen.“

„Eine Zwangs-elektronische Patientenakte mit europaweiter Zugriffsmöglichkeit würde unverantwortliche Risiken des Diebstahls, Hacks oder Verlustes persönlichster Behandlungsdaten nach sich ziehen und Patienten jeder Kontrolle über die Sammlung ihrer Krankheiten und Störungen berauben“, warnt Breyer. „Das ist nichts anderes als das Ende des Arztgeheimnisses. Haben wir nichts aus den internationalen Hackerangriffen auf Krankenhäuser und andere Gesundheitsdaten gelernt? Wenn jede psychische Krankheit, Suchttherapie, jede Potenzschwäche und alle Schwangerschaftsabbrüche zwangsvernetzt werden, drohen besorgte Patienten von dringender medizinischer Behandlung abgeschreckt zu werden – das kann Menschen krank machen und ihre Familien belasten! Im Europäischen Parlament werde ich dafür kämpfen, dass das Parlament diese drohende digitale Entmündigung nächste Woche eindeutig ausschließt.“

Anja Hirschel, Spitzenkandidatin der Piratenpartei für die Europawahl 2024, kommentiert: “Eine zentrale Datenspeicherung weckt Begehrlichkeiten in verschiedenste Richtungen. Wir sprechen dabei allerdings nicht nur von Hackerangriffen, sondern von der sogenannten Sekundärnutzung. Diese bezeichnet Zugriffe, die zu Forschungszwecke vollumfänglich gewährt werden sollen. Die Patientendaten sollen dann an Dritte weitergegeben werden. Aus Datenschutzsicht ist bereits das zentrale Ansammeln problematisch, bei Weitergabe wenigstens ein Opt-In Verfahren (aktive Einwilligung) richtig. Dies würde eine gewisse Entscheidungshoheit jedes Menschen über die persönlichen Daten ermöglichen. Wird allerdings nicht einmal ein Opt-Out Verfahren (aktiver Widerspruch) etabliert, so bedeutet dies letztlich die Abschaffung der Vertraulichkeit jeglicher medizinischer Information. Und das obwohl Ärzte in Deutschland gemäß § 203 StGB berufsständisch zurecht der Schweigepflicht unterliegen, wie u.a. auch Rechtsanwälte. Dieser Schutz unserer privatesten Informationen und das Recht auf vertrauliche Versorgung und Beratung stehen jetzt auf dem Spiel.”

Weitere heute eingereichte Änderungsanträge von Breyer und Abgeordneten der Grünen und Linken betreffen die geplante Regel, dass Patienten künftig aktiv widersprechen müssten, um zu verhindern, dass Gesundheitsdienstleister und Industrie auf ihre Behandlungsakten zugreifen können. „Die Bürgerinnen und Bürger müssen allerwenigstens mündlich gefragt werden, ob sie einer Aufhebung des Arztgeheimnisses widersprechen wollen“, erklärt Breyer. „Für viele Patienten, die wenig Zeit oder begrenzte Sprachkenntnisse haben oder älter sind, ist es sonst zu kompliziert, schriftlich bei einer bestimmten Behörde oder über digitale Kanäle widersprechen zu müssen. Internationale Standards wie der Internationale Kodex für medizinische Ethik des Weltärztebundes oder die Erklärung von Helsinki über die ethischen Grundsätze der medizinischen Forschung verlangen bisher, dass vor der Weitergabe medizinischer Informationen die Zustimmung des Patienten eingeholt wird. Eine von uns in Auftrag gegebene Meinungsumfrage bestätigt, dass die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass sie um ihre Zustimmung gebeten werden, bevor ihre Gesundheitsdaten weitergegeben werden. Jede Website fragt uns um Erlaubnis, bevor sie ein Cookie setzt, aber wir sollen nicht einmal gefragt werden, bevor unsere Gesundheitsdaten weitergegeben werden? Dieses System entzieht den Patienten die Kontrolle über ihre Daten und ist nicht akzeptabel.“

Hintergrund:

Das EU-Gesetz zum Gesundheitsdatenraum soll Ärzte verpflichten, eine Zusammenfassung jeder Behandlung eines Patienten in das europaweit vernetzte System einzustellen (Artikel 7). Ausnahmen oder ein Widerspruchsrecht sind auch für besonders sensible Krankheiten und Therapien wie psychische Störungen, sexuelle Krankheiten und Störungen wie Potenzschwäche oder Unfruchtbarkeit, HIV oder Suchttherapien nicht vorgesehen. Der Patient soll nur Zugriffen auf seine elektronische Patientenakte durch andere Gesundheitsdienstleister oder die Industrie widersprechen können. Wie ein Widerspruch erfolgen soll, ist nicht geregelt. Eine Umfrage der Europäischen Verbraucherzentralen (BEUC) hat ergeben, dass 44% der Bürger Sorgen vor Diebstahl ihrer Gesundheitsdaten haben; 40% befürchten unbefugte Datenzugriffe.

Nächsten Dienstag soll das Plenum des Europäischen Parlaments abstimmen und kann letzte Änderungen vornehmen. Bereits nächsten Donnerstag soll die erste Verhandlungsrunde zwischen EU-Rat, EU-Parlament und EU-Kommission stattfinden. Der Berichterstatter will die Verhandlungen noch vor der Europawahl 2024 abschließen.