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Chatkontrolle: EU-Verordnung zur flächendeckenden und verdachtslosen Durchsuchung elektronischer Nachrichten angenommen, Klage geplant, Widerstand gegen Ausweitung

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Heute haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments die Verordnung zur Chatkontrolle angenommen, die es E-Mail- und Messaging-Anbietern erlaubt, private Nachrichten unterschiedslos und in Echtzeit nach verdächtigen Inhalten zu durchsuchen und diese der Polizei zu melden („ePrivacy-Ausnahmeverordnung“). Eine Mehrheit von 537 bei 133 Gegenstimmen und 24 Enthaltungen unterstützte die Verordnung. Damit dürfen E-Mail-, Messaging- und Chatanbieter die gesamte elektronische Korrespondenz anhand intransparenter Datenbanken und mit fehleranfälliger „künstlicher Intelligenz“ durchsuchen. Obwohl diese Algorithmen nach potenzieller Kinderpornografie und Anbahnungsversuchen an Minderjährige suchen sollen, sind bis zu 86% der der Polizei gemeldeten Nachrichten nicht strafrechtlich relevant und Nutzer:innen werden zu Unrecht verdächtigt – 30% davon Minderjährige.

Der Europaabgeordnete, Schattenberichterstatter und Bürgerrechtler Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei, Fraktion Grüne/Europäische Freie Allianz) kritisiert:

Die Annahme der ersten EU-Verordnung zur Massenüberwachung ist ein schwarzer Tag für alle, die auf unbefangene und vertrauliche Kommunikation und Beratung angewiesen sind wie Missbrauchsopfer und Presseinformanten. Die Verordnung versetzt dem digitalen Briefgeheimnis den Todesstoß. Sie ist allgemein ein Dammbruch in Richtung verdachtsloser Überwachung privater Räume durch Konzerne – mit dieser totalitären Logik könnten auch unsere Post, unsere Smartphones oder unsere Schlafzimmer unter Überwachung gestellt werden. Solche Denunziationsmaschinen auf uns loszulassen ist ineffektiv, illegal und unverantwortlich. 

Eine wahllose Suche ins Blaue hinein ist der falsche Weg zum Schutz von Kindern und gefährdet diese sogar, indem ihre privaten Aufnahmen in die falschen Hände geraten und Kinder vielfach kriminalisiert werden. überlastete Ermittler werden mit dem tausendfachen Aussortieren strafrechtlich irrelevanter Nachrichten aufgehalten. Die Opfer eines so schrecklichen Verbrechens wie des sexuellen Kindesmissbrauchs haben ein Recht auf Maßnahmen, die Missbrauch von vornherein verhindern. Der richtige und überfällige Weg wären etwa verstärkte verdeckte Ermittlungen in Kinderporno-Ringe und ein Abbau der jahrelangen Bearbeitungsrückstände bei Durchsuchungen und Auswertungen beschlagnahmter Datenträger durch die Polizei.“

Verordnung verstößt gegen Grundrechte, Klage wird vorbereitet

Die EU-Verordnung zur Chatkontrolle wurde von einer ehemaligen Richterin des Europäischen Gerichtshofs als grundrechtswidrig eingestuft. Dr. Patrick Breyer will sie vor Gericht zu Fall bringen und sucht bereits nach Missbrauchsopfern, die als Beschwerdeführer auftreten würden.

Missbrauchsopfern schadet eine verdachtslose Nachrichtendurchleuchtung besonders“, so Breyer. „Gerade Betroffene sexualisierter Gewalt sind auf die Möglichkeit angewiesen, sicher und vertraulich kommunizieren zu können. Räume zum sicheren Austausch untereinander oder etwa mit Therapeut:innen und Anwält:innen helfen Betroffenen bei der Verarbeitung und dem Umgang mit ihren Erfahrungen. Diese sicheren Räume werden ihnen nun durch die Chatkontrolle genommen. Das kann Opfer davon abhalten, Hilfe und Unterstützung zu suchen. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen!“

2020 schlug die Europäische Kommission eine Übergangsverordnung vor, die die Durchsuchung aller privaten Chats, Nachrichten und E-Mails nach illegalen Darstellungen von Minderjährigen und versuchter Kontaktanbahnung mit ihnen ermöglichen soll. Damit soll es Anbietern ermöglicht werden, alle Nachrichten auf verdächtige Texte und Bilder zu scannen. Dies geschieht in einem vollautomatischen Prozess und unter Einsatz fehleranfälliger „künstlicher Intelligenz“. Erachtet ein Algorithmus eine Nachricht als verdächtig, werden deren Inhalt und Metadaten automatisch und ohne menschliche Überprüfung an eine private Organisation mit Sitz in den USA und von dort an nationale Polizeibehörden weltweit weitergegeben. Die gemeldeten Nutzer:innen werden darüber nicht benachrichtigt.

Gegen das Verfahren der flächendeckenden Chatkontrolle haben sich unter anderem der Bundesdatenschutzbeauftragte, die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein ausgesprochen. Laut einer repräsentativen Umfrage lehnen 72% der EU-Bürger:innen die anlasslose Durchleuchtung ihrer privaten Kommunikation ab. Breyer hat im vergangenen Jahr bei der irischen Datenschutzbehörde deswegen eine Beschwerde gegen Google und Facebook eingereicht.

Verschärfung geplant: Widerstand gegen Verpflichtung zur Nachrichtendurchsuchung und Aushebelung sicherer Verschlüsselung

Die Europäische Kommission hat bereits eine Folgeverordnung zur Verschärfung der Chatkontrolle angekündigt. Während es die heute abgestimmte Regelung Anbietern erlaubt, in privaten Nachrichten nach auffälligem Material zu suchen, soll die Folgeverordnung alle E-Mail- und Messaginganbieter zum Einsatz der automatischen Nachrichtendurchleuchtung zwingen. Bisher sicher Ende-zu-Ende-verschlüsselte Messengerdienste wie Whatsapp oder Signal würde dies zum Einbau einer Hintertür zwingen.

Wie jetzt bekannt wurde, ist der Widerstand beträchtlich: Eine von der EU-Kommission durchgeführte öffentliche Befragung (Konsultation) zu diesem Vorhaben ergab, dass 51% der Befragten eine Verpflichtung zur Chatkontrolle für E-Mail und Messaging-Anbieter ablehnen. Noch deutlicher lehnen die Befragten die Anwendung der automatischen Nachrichtendurchsuchung auf Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikationsinhalte ab: 80% der Befragten wollen nicht, dass die Chatkontrolle auch auf verschlüsselte Nachrichten angewendet wird.

Aufgrund des vielfachen Protests hat die EU-Innenkommissarin die Vorlage der neuen Verordnung auf September 2021 verschoben.

Mehr Informationen zur Chatkontrolle: www.chatkontrolle.de

Die gestrige Plenarrede von Dr. Patrick Breyer im Wortlaut

alle Europaabgeordneten haben letzte Woche geöffnete Post erhalten. So würde es aussehen, wenn alle Ihre Post verdachtslos geöffnet und gescannt, und verdächtige Inhalte der Polizei übergeben würden. Unvorstellbar? Für unsere elektronische Post soll genau das zugelassen werden mit der ersten EU-Verordnung zur Massenüberwachung. 

Frau Kommissarin, Kinder vor Missbrauch schützen Sie mit diesen Verdächtigungsmaschinen nicht. Kinderpornoringe benutzen kein Facebook und kein Google!  Nach Polizeiabgaben treffen bis zu 86% der automatisierten Strafanzeigen Unschuldige! 

Ich bin selbst Vater. Ich will, dass mein Kind wirksam geschützt wird. Und dass es noch mit privaten Räumen und privaten Gesprächen aufwachsen darf.  Kinder und Jugendliche haben auch ein Grundrecht auf Privatsphäre, und diese illegale Ausnahmeverordnung bricht dieses Grundrecht! Nach dieser totalitären Logik müssten ja selbst unsere Schlafzimmer als potenzielle Missbrauchsgelegenheiten unter ständiger Überwachung stehen, was planen Sie als Nächstes? 

72% der EU-Bürgerinnen und Bürger wollen nicht, dass ihre privaten und intimen Nachrichten und Chats, bis hin zu Nacktfotos, von Privatkonzernen verdachtslos durchschnüffelt werden – respektieren Sie das! 

Ich schließe mit den Worten eines Missbrauchsopfers, der schreibt: ‚Ich hatte keine vertraulichen Kommunikationswerkzeuge, als ich vergewaltigt wurde. Alle meine Kommunikation wurde von den Tätern überwacht. In einem geschützten Raum frei über das Erlittene sprechen zu können, ist für Missbrauchsopfer unersetzlich. Das Europäische Parlament wird darüber abstimmen, Überlebenden diese Sicherheit zu nehmen. Diese Verordnung wird Missbrauch in den Untergrund treiben, wodurch er viel schwieriger aufzuspüren sein wird.‘“

Kommentare

9 Kommentare
  • Anonym

    danke für den einsatz nicht entmutigen lassen und weiter dran bleiben

  • Anonym

    ggf. sollte man das Feature ” Abwesenheitsnotiz” diverser Mailprogramme mit einem Hinweis alá “Deine Mail und die gesamten Inhalte werden auf Anweisung der EU vom 06.07.2021 von privaten Firmen auf möglicherweise illegale Inhalte geprüft, die selben Firmen schätzen ein, was illegal sein könnte und melden dies, welchen Behörden auch immer. Deine Privatsphäre existiert ab jetzt nicht mehr, im übertragenen Sinn werden alle deine Briefe in der Post geöffnet, gelesen, archiviert, deine Grundrechte laut Grundgesetz existieren ab jetzt nicht mehr. Möchtest Du diese Mail an mich unter diesen Umständen wirklich versenden?” versehen……..auf Verschlüsselungsmöglichkeiten hinweisen wäre natürlich die Sahne auf der Torte

  • Techweb

    Es wird immer ein Grund gefunden werden, um den Strick fester zu ziehen! Wie schon hier angesprochen sollte natuerlich eine Verschluesselung angewendet werden, doch gibt es weitere Moeglichkeiten solche “Vorgehensweisen” einzuschraenken, was hier nicht angesprochen werden kann. Bitte nach eventuellen Moeglichkeiten im Web suchen…. aber nicht mit G00CLe…

  • Anonym

    Geht es darum zukünftige Nachrichten zu kontrollieren oder soll mit diesen Programmen auch alle Nachrichten der Vergangenheit durchleuchtet werden? Es ist ein massiver Eingriff in unsere Grundrechte und das dürfen wir nicht hinnehmen

  • Vera

    Das ist doch glatte Wahnsinn.

  • Besserwisser

    Offtopic “Gendern”:

    An dem Artikel kann man schön sehen, wie bizarr dieser Genderblödsinn ist. Da wo man es schick findet gibts ein :innen, ansonsten bleibt “Beschwerdeführer” einfach maskulin. Auch der “Bundesdatenschutzbeauftragte” ist nicht würdig für den Doppelpunkt. Was ist eigentlich mit “Anbieter”? Riecht das nicht auch nach einer Anbieter:in oder etwa AnbieterIn oder doch lieber Anbieter*innen? Gibt ja auch noch / und _ . Die Vielfalt ist groß.

    Benutzt doch einfach unsere Sprache wie sie ist. Es gibt genug Ausdrucksmöglichkeiten, um auch den letzten der Gesellschaft anzusprechen und versaut den Lesefluss nicht mit den frei erfundenen Wortverunstaltungen.

    Vielen Dank

  • lupenreiner demokrat

    So bauen also europäische Parlamentarier die größte, private, weltweit zugängliche Kindervideodatenbank auf.
    Dort können sich dann alle pädophilen Hacker bedienen.

  • Inge Wenzl

    Lieber Herr Breyer,
    ich schreibe für die Wochenzeitung “der Freitag” einen Artikel über die “Chatkontrolle”. Haben Sie eine Einschätzung, wie lange es dauern wird, bis es in der EU eine Entscheidung zu diesem Thema gibt? Seitens Kommission hieß es, der Prozess sei noch am Anfang. Was denken Sie, wie lange es noch dauern kann – Wochen, Monate, Jahre? Kommt die Kritik seitens Bürger*innen und zivilgesellschaftlicher Organisationen auch im Parlament an?
    Ich hatte auch schon bei der Parteizentrale der Piraten in Berlin angefragt, wende mich nun aber auch explizit an Sie, da Sie mir sehr nahe an der Quelle erscheinen und sich ja detailliert mit dem Thema beschäftigt haben.
    Ich bräuchte die Information oder Einschätzung möglichst bis morgen Mittag.
    Vielen Dank und viele Grüße,
    Inge Wenzl

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