Kein Recht auf anonyme Kommunikation? Patrick Breyer unterliegt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Zu dem heutigen Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, die generelle und unterschiedslose Zwangsidentifizierung aller Nutzer von Mobiltelefonen und Smartphones sei zulässig (Az. 50001/12), erklärt der Beschwerdeführer, Bürgerrechtler und Europaabgeordnete der Piratenpartei Dr. Patrick Breyer:
Heute ist ein schwarzer Tag für Whistleblower und Presseinformanten, politische Aktivisten und beratungssuchende Menschen in Not, die ohne den Schutz der Anonymität oftmals verstummen. Nur Anonymität verhindert die Verfolgung und Benachteiligung mutiger und hilfsbedürftiger Menschen und gewährleistet den freien Austausch mitunter lebenswichtiger Informationen.
Die Mehrheit der Richterinnen und Richter hat eine Entscheidung darüber verweigert, ob das Recht auf freie Meinungsäußerung auch ein Recht auf anonyme Kommunikation voraussetzt und gewährleistet (Absatz 62). Nur der Schweizer Richter Carlo Ranzoni hat in seiner abweichenden Meinung erfasst, was auf dem Spiel steht: Die Identität der Telefon- und Internetnutzer gibt dem Staat den Schlüssel zur Ausschnüffelung unserer privaten Kommunikation und Bewegungen in die Hand.
Ich empfehle jedem, der seine Privatsphäre schützen möchte, die Nutzung anonymer Prepaidkarten aus EU-Ländern wie den Niederlanden und Dänemark. Auch die Nutzung von Anonymisierungsdiensten zum Internetsurfen ist zum Schutz vor falschem Verdacht, Spionage und Erpressung unbedingt anzuraten. Das heutige Urteil ist ein Weckruf zur Verteidigung unserer Grundrechte gegen Überwachungsstaat und Überwachungskapitalismus in den Parlamenten.”
Verfassungsbeschwerden gegen das Ausmaß des staatlichen Datenzugriffs (“Bestandsdatenauskunft”) sind noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Die Bundesregierung will künftig auch bei Internetanbietern in großem Ausmaß Informationen über die Internetnutzung abgreifen.
Das heutige Urteil und die abweichende Meinung von Richter Ranzoni im Wortlaut
Wer sind die Beschwerdeführer?
Der Beschwerdeführer Patrick Breyer ist Bürgerrechtler, Datenschützer und Europaabgeordneter der Piratenpartei. Er ist bereits gegen das Gesetz zur Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten erfolgreich vor das Bundesverfassungsgericht gezogen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Patrick_Breyer
Der Beschwerdeführer Jonas Breyer ist Jurist in Wiesbaden, Datenschützer und Mitglied im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung.
Was sind die wichtigsten Argumente der Beschwerdeführer?
Der Identifizierungszwang ist nutzlos, weil Straftäter ihn routinemäßig umgehen (z.B. Angabe falscher Daten, Weitergabe bereits registrierter Karten, Nutzung anonymer ausländischer Karten). In vielen EU-Mitgliedsstaaten besteht kein Identifizierungszwang.
Die EU-Kommission hat es 2011 mit der folgenden Begründung abgelehnt, einen Identifizierungszwang einzuführen: „Bislang wurden keine Nachweise für die Wirksamkeit der einzelstaatlichen Maßnahmen vorgelegt.“
Der Identifizierungszwang erschwert es technisch unbedarften Bürgern unzumutbar, ohne Furcht vor Nachteilen telefonische Beratung oder Hilfe in Anspruch zu nehmen, Straftaten anzuzeigen oder die Presse von Missständen in Kenntnis zu setzen. Dies kann Menschenleben kosten, z.B. wenn sich Straftäter aus Furcht vor Verfolgung nicht mehr anonym an die Telefonseelsorge werden können.
Auf der Straße und per Post kann man kommunizieren, ohne Namen und Geburtsdatum nennen zu müssen. Per Telefon oder über das Internet darf dies nicht anders sein.
Wer ist für den Identifizierungszwang verantwortlich?
Die entsprechende Regelung des Telekommunikationsgesetzes wurde vom Ministerium des damaligen SPD-Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement entworfen. Der damalige SPD-Bundesinnenminister Otto Schily nahm starken Einfluss darauf. Verabschiedet wurde das Gesetz vom Bundestag 2004 mit den Stimmen von SPD, Grünen und CDU. Nur die FDP stimmte dagegen.
Zuletzt verschärfte die “Große Koalition” den Identifizierungszwang durch die Pflicht zur Vorlage eines Ausweises.
Wie geht es weiter?
Gegen das Urteil kann Überprüfung durch die Große Kammer beantragt werden. Wir prüfen, ob wir davon Gebrauch machen.
Wo finde ich weitere Informationen?
Die Beschwerdeschrift und Schriftsätze im Volltext
Das heutige Urteil und die abweichende Meinung von Richter Ranzoni im Wortlaut
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